Viktor Orbáns Interview in der Sendung „180 Minuten” von Radio Kossuth
24. Juni 2016

Es ist fünf Minuten nach halb acht und Sie hören „180 perc“. Im Studio anwesend ist Ministerpräsident Viktor Orbán. Guten Morgen!

Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen! Ich begrüße die Zuhörer.

Mit was anderem könnten wir beginnen als dem Ergebnis der britischen Volksabstimmung? Wir wussten, dass es ein enges Ergebnis geben würde, doch soviel ist schon jetzt aus den wenigen Äußerungen, aus den Reaktionen des Marktes ersichtlich, dass die Nachricht in Wirklichkeit die Welt geschockt hat, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt. Und Sie?

Die Politik ist nun einmal die Kunst der Möglichkeiten. Diese muss man rechtzeitig überblicken. Über die führenden europäischen Politiker müssen die Menschen nicht unbedingt eine gute Meinung haben, doch lohnt es sich auch nicht über sie anzunehmen, sie verfügten über keinen gesunden Verstand. In Europa hat also jeder schon vor Monaten die beiden Drehbücher, den Verbleib und den Austritt bis zum Ende durchdacht, so auch ich.

Das hat ein jeder gesagt, weil man vermutlich keine andere Möglichkeit hatte, dass ja, wir haben uns vorbereitet, wir haben einen Plan für den Fall, wenn Großbritannien austritt. Doch an den Reaktionen des Marktes sieht man nicht, dass man sich sehr darauf vorbereitet hätte, dass die Briten gehen werden.

Nun sind der Markt und die Politik zwei verschiedene Dinge. Der Markt lebt im Heute, die Politik in der Zukunft.

Das heißt, Sie haben eine Vorstellung darüber, was in den kommenden Wochen und Jahren geschehen wird?

Selbstverständlich. Das ist die Verantwortung und die Pflicht des jeweiligen ungarischen Ministerpräsidenten und jener der anderen Nationen. Aber meiner Ansicht nach ist wichtig, dass wir nicht auf die Nase fallen, das heißt, dass wir nicht über unsere eigenen Beine stolpern. So etwas kommt im intellektuellen Sinne dann vor, wenn man die Fragen nicht in der richtigen Reihenfolge beantwortet. Die Frage ist jetzt nicht, was sein wird, sondern was jetzt ist?

Wieso, was ist jetzt?

Nun, zuerst müssen wir meiner Ansicht nach die Entscheidung der Briten respektieren, denn jede Nation hat das Recht, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Ganz gleich ob es eine Union gibt oder nicht, dies ist ein Grundsatz, der über jedwedem modernen politischen Überbau steht. Dies ist das Wesen der europäischen Kultur, der europäischen Zivilisation und der europäischen Werte. Jede Nation besitzt das Recht, selbst über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Dies ist geschehen. Dies ist die erste Sache. Die zweite Sache ist, dass wir analysieren müssen, welche Angelegenheiten in dieser Diskussion bestimmend waren, denn hier ist nicht einfach nur eine Abstimmung passiert, sondern auch etwas, was im Übrigen den Briten würdig ist. Wir sprechen hier schließlich doch über eine Wiege der europäischen politischen Kultur und über das Mutterland des Parlamentarismus. Dort wurde also eine sehr ernsthafte, sich über Monate hinziehende Debatte geführt, in deren Verlauf jede Frage vorgebracht worden ist. Was ich aber auch für mich selbst zu klären versuche ist, welches Thema das entscheidende und bestimmende war. Soweit ich das sehe, war die Frage der Einwanderung die Frage mit bestimmender Kraft, beziehungsweise könnte ich auch sagen, die Frage der Völkerwanderung. Und die Briten haben die Antwort auf die Frage gesucht, wie sie der Völkerwanderung der Moderne widerstehen, wie sie der Einwanderung, den Migranten widerstehen können, wie sie ihr eigenes Leben auch weiterhin in ihren eigenen Händen halten könnten. Ich habe den Eindruck, soweit ich sehe, war dies die bestimmende Frage. Auch das besitzt Lehren. Was nun diese Lehren in Hinblick auf uns beziehungsweise die in der Europäischen Union verbleibenden Länder und auf Brüssel selbst angeht, so ist meiner Ansicht nach das einzige Problem, was wir heute schon den späteren langen Analysen vorausgehend feststellen können, dass Brüssel die Stimmen der Menschen hören muss. Dies ist die größte Lehre aus dieser Entscheidung.

Nun, das wäre meine nächste Frage, ob all dieses Erwecken der Aufmerksamkeit, das wir im Übrigen auch im Rahmen von anderen kommunalen, regionalen, landesweiten Wahlen in den Mitgliedstaaten haben bemerken können, auch beim Adressaten ankommen wird? Weil das hat ein jeder eindeutig gemacht, auch Sie sprechen darüber, dass die Hauptfrage im Grunde ist, was hierhergeführt hat, wie wir an den Punkt gelangt sind, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt? Dies ist eine bedeutende Kritik in Richtung auf die Brüsseler Führung.

Meiner Ansicht nach, lohnt es sich, diese Analysen durchzuführen, aber ich wiederhole, wer heute auf Grundlage des gesunden Menschenverstandes eine als Ausgangspunkt anzusehende Tatsache sucht, ein bestimmendes Thema der Diskussion in Großbritannien beziehungsweise in England, so war dies die Frage, wie sie ihre Insel behalten können? Wie sie die bleiben können, die sie sind? Wie sie sich gegenüber den Migranten verteidigen können, gegenüber der Einwanderung, und ob sie mit der Politik und dem Schutz zufrieden sind, den die Union in diesem Bereich bietet. Ich habe den Eindruck, sie waren damit nicht zufrieden. Nun, wir sollten jetzt einen Schritt zur Seite treten. Warum ist Ungarn in der Europäischen Union? Ungarn ist aus dem Grunde in der Europäischen Union, weil wir an ein starkes Europa glauben. Doch ist Europa nur dann stark, wenn es auf Fragen von solch großer Bedeutung wie die Einwanderung Antworten geben kann, mit denen es sich selber nicht schwächt, sondern stärkt. Diese Antworten hat die Europäische Union nicht gegeben. Ja, sie hat sogar entgegengesetzte Antworten gegeben. Antworten, also Antworten in der Frage der Einwanderung und der Völkerwanderung, die deutlich erkennbar viele Menschen, im Falle der Briten zum Beispiel die Mehrheit, nicht als Entscheidungen ansahen, die zu einem starken Europa führen, sondern zu einem schwachen Europa. Ich würde die Lösung um diesen Fragenkreis herum suchen. Aber an dieser Stelle höre ich auch auf, wenn Sie erlauben, werde ich in dieser Angelegenheit keine Fragen mehr beantworten, denn heute wird unser Leben daraus bestehen, dass die 28 beziehungsweise jetzt nur noch die 27 Ministerpräsidenten ständig untereinander konsultieren werden. Die europäischen Institutionen tagen bereits, führen Gespräche, den ganzen Tag werden die führenden Politiker der Visegrád-Staaten miteinander konferieren, wenn auch nicht persönlich, so doch per Telefon, jedenfalls werden wir uns abstimmen. Und am Dienstag gibt es einen Gipfel der Europäischen Union in Brüssel, auf dem sich die 27, beziehungsweise werden die Briten noch dabei sein, also die 28 Ministerpräsidenten sich zusammensetzen werden. Meiner Ansicht nach wäre es unverantwortlich vor diesen Gesprächen mehr zu sagen, als was ich jetzt getan habe.

Beantworten Sie auch nicht die Frage, ob man in dieser Frage nach einer personellen Konsequenz, nach einer verantwortlichen Person suchen muss? Ganz gleich ob in Brüssel oder in Großbritannien?

Dies ist die Sache der Briten.

Aber in Brüssel? Dies ist auch für Brüssel eine Ohrfeige. Auch Sie haben darauf hingewiesen.

Wir sollten den Gesprächen nicht vorgreifen.

Gibt es Auswirkungen für Ungarn, gibt es Konsequenzen für unsere sich dort aufhaltenden Arbeitnehmer? Was wird mit ihnen?

Jetzt folgt ein längerer juristischer Prozess. Auch hierüber lohnt es sich nicht solange etwas zu sagen, bis wir nicht seine Konturen sehen können. Wie lange es dauern wird, was ihr Inhalt sein wird. Vermutlich liegt hier jene Lösung auf der Hand, dass Großbritannien an Stelle des Mitgliedschaftsvertrags ein Abkommen mit der Europäischen Union schließen wird und in diesem diese Fragen regelt.

Die Frage der Einwanderung, der Migration, war sowohl in Großbritannien als auch, selbstverständlich, in der Europäischen Union ein Hauptthema in der Kampagne. Ungarn bereitet sich auf eine Volksabstimmung vor, wenn ich richtig informiert bin, dann wird eines der Themen der heutigen Regierungssitzung sein, dass im Wesentlichen die juristischen Hindernisse vor der Volksabstimmung im Herbst ausgeräumt sind. Doch bevor wir noch über die Lage in Ungarn sprechen würden, sprechen wir ein bisschen über den europäischen Aspekt. Die gegenwärtige Suche nach Lösungen, die Lösungsfindung, die Antwortsuche – wird sie angesichts der gegenwärtigen Lage langsamer?

Ich möchte mich jetzt nicht hierauf einlassen, jedoch nur sagen, dass jede Nation ihre Außengrenzen verteidigen muss. Besonders wenn diese identisch mit den Außengrenzen der Europäischen Union sind. Ungarn ist solch ein Land, also würde ich jetzt nicht herumphilosophieren, die Dinge nicht verkomplizieren, sondern den einfachen Standpunkt deutlich machen, laut dem Europa und in ihm Ungarn stark genug ist, um sich gegenüber jedweder Völkerwanderung zu verteidigen. Wir können uns gegen jedwede illegale Migration verteidigen, wenn wir es wollen. Wir Ungarn wollen es, deshalb werden wir uns auch verteidigen.

Wir wird das aussehen? Haben sie schon einen Plan, wie die Kampagne der ungarischen Volksabstimmung aussehen wird? Wird es eine Kampagne geben?

Selbstverständlich. Es wird eine Kampagne, es wird eine Debatte geben, geht es doch letztendlich um eine oder vielleicht die wichtigste Frage der Zukunft der Nation. Sinnvolle, besonnene und spannende Gespräche, Diskussionen, vielleicht auch als sinnvoll zu bezeichnende Kampagnen werden möglich sein. Die Hindernisse sind tatsächlich ausgeräumt. Nun, formulieren wir es so, die linksliberale Seite wollte diese Volksabstimmung torpedieren. Sie hat also alle möglichen juristischen Mittel angewandt und den Parlamentsbeschluss hierüber angegriffen. Dies ist aber nicht gelungen. Schließlich leben wir im 21. Jahrhundert, wir haben eine Demokratie, ich glaube nicht, dass irgendeine ungarische oder internationale linksliberale politische Bewegung den ungarischen Menschen ihr Recht wegnehmen könnte, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Diese Aussage haben verschiedene richterliche Foren auch bekräftigt. Meiner Ansicht nach steht die ungarische Demokratie auf starken Beinen und das Volk wird sich entscheiden, was es will.

Was sehen Sie in den folgenden Monaten? Wird die Flut der hierher kommenden Migranten zunehmen? Über was für Informationen verfügen Sie?

Hierher können sie nicht ankommen, nur bis zur Grenze.

Nach Europa.

Nur bis zur Grenze.

Die Flut der in Europa ankommenden Migranten.

Mit ihr muss man rechnen, denn die die Völkerwanderung und die Migration auslösenden Ursachen haben wir nicht beseitigt. Den durch uns, durch mich vorgelegten Vorschlag, das Schengen 2.0, ist zwar zusammen mit dem eigenen Vorschlag der Italiener auf die eigene Tagesordnung der Europäischen Union aufgenommen worden, wir verhandeln also darüber, sowohl der italienische als auch der ungarische Vorschlag ist in die internationalen Dokumente aufgenommen worden. Doch die darin enthaltenen Vorschläge sind noch nicht angenommen worden, und es gab auch keinen Beschluss. Wenn also der in unserem Vorschlag vorkommende Beschluss, laut dem wir niemanden hereinlassen, alle müssen an der Grenze aufgehalten werden, und auf einem Gebiet außerhalb der Europäischen Union müssen alle Migranten zusammengeführt werden, und die Bearbeitung ihrer Anträge zur Einwanderung, das heißt die juristischen Verfahren müssen dort, außerhalb des Territoriums der Europäischen Union durchgeführt werden, wenn diese Beschlüsse gefasst worden wären, dann wäre heute ganz Europa in solcher Sicherheit wie Ungarn es ist. Das heißt, es wäre in der Lage, die Völkerwanderung an seiner Grenze aufzuhalten. Diese Entscheidungen wurden nicht gefällt. Deshalb gibt es noch Spalten im Grenzsystem der Europäischen Union, aber diese Spalte ist nicht in Ungarn, der ungarische Grenzschutz steht fest auf seinen Beinen.

Wie ich schon gesagt hatte, auf dem „Menu“ der heutigen Regierungssitzung wird sich auch die Volksabstimmung, die Volksabstimmung im Herbst unter den Themen finden. Für wann bereiten sie sich auf die Volksabstimmung vor?

Dies ist das ausschließliche Recht des Staatspräsidenten. Selbstverständlich bestimmen die im Gesetz festgelegten Termine die Möglichkeit, doch man muss auf die Entscheidung des Herrn Präsidenten warten.

Sprechen wir über andere innenpolitische Angelegenheiten aus Ungarn! Zum Beispiel über die Umgestaltung der Sparkassen. In dieser Angelegenheit hatte sich zuvor auch der Bankenverband zu Worte gemeldet und auch Sándor Demján hatte sich geäußert, der letzte Woche sagte, dank der mit Ihnen geführten Konsultationen ist verhindert worden, dass eine parasitäre Gruppe das Vermögen der Sparkassen herausgepumpt hätte. Er fügte auch noch hinzu, dass der geistige Vater und die treibende Kraft des Genossenschaftsgesetzes Zoltán Spéder war. Wieso wurde Ihr in ihn gesetztes Vertrauen erschüttert?

In wen gesetztes Vertrauen?

In Zoltán Spéder.

Es geht hier um keinerlei Fragen persönlichen Vertrauens.

Warum spricht Sándor Demján darüber?

Das müssten Sie vielleicht ihn fragen.

Ich frage nur, weil Sie sich abgestimmt haben.

Ja, wir haben über die Sparkassen gesprochen. Also ich pflege mit niemandem über andere Personen zu sprechen. Es ist nicht die Aufgabe des Ministerpräsidenten, sich mit persönlichen und Personalfragen zu beschäftigen, ausgenommen wenn diese in seine Zuständigkeit gehören. Doch hier geht es nicht um so etwas. Wir beschäftigen uns also mit der Angelegenheit. Die Angelegenheit ist wichtig und wesentlich. Wenn in Ungarn der Hörer jetzt zum Beispiel das Wort „Bankeigentümer“ oder „Bankaktionär“ hört, dann denkt er meiner Ansicht nach an solche Anzugträger, die keine durch physische Arbeit abgenutzten Hände haben, eine elegante Krawatte, vermutlich eine teure Uhr tragen, und überhaupt, keinesfalls so aussehen und so leben wie er, der die Nachrichten über sie hört. Nun stellen die Sparkassen eine interessante Ausnahme hiervon dar. Weil in den Sparkassen die Eigentümer Menschen wie Sie oder ich sind, also Menschen, die keine Bankiers, keine Bankeigentümer sind, sondern normale, über kein großes finanzielles Vermögen verfügende ungarische Staatsbürger. Auch Sie können Mitglied in der Sparkasse sein und dadurch dann auch Eigentümerin. Ad absurdum, selbst ich könnte es noch sein. Ich bin es speziell nicht, bevor diese Frage noch Wellen schlagen würde. Das Sparkassensystem beziehungsweise die Eigentümer des Sparkassensystems sind einfache Bürger. Deshalb wurde die ganze Angelegenheit von der ungarischen Regierung auch immer mit besonderer Beachtung behandelt. Nun, so wie es zu sein pflegt, so ist auch unser Volk derart, dass es in ihm bessere und weniger kräftige Teile gibt, und auch hier, in diesem Sparkassensystem ist es zu Missbräuchen gekommen. Auch Sie können sich an die Nachrichten hierüber, an die polizeilichen Verfahren, die Bankaufsicht erinnern, hier ist also viel geschehen. Viele haben die Möglichkeit missbraucht, dass hier auch einfache Bürger zu Eigentümern werden können. Und das Maß dieser Probleme war dermaßen groß geworden, dass die Regierung hier einschreiten musste. Wir mussten mehrere Genossenschaften schließen, sanieren, alle möglichen juristischen Verfahren mussten eingeleitet werden. Die Regierung hat beschlossen, dass dies so nicht bleiben kann, weil dies das ungarische Finanzsystem destabilisieren kann und darüber hinaus im Gegensatz zu den Interessen der einfachen Menschen steht, die Bankeigentümer sind. Deshalb haben wir hier eingegriffen und eine Konzeption der Sparkassen angekündigt. Wir haben das ganze neu organisiert. Dies war eine sehr große Arbeit. Im Übrigen hat das die Menschen auch viel Geld gekostet. Wir haben etwa 130-140 Milliarden Forint aus dem Haushalt in die Neuorganisation des Systems der Sparkassen gelegt. Und meiner Ansicht nach ist eine schöne Arbeit vollbracht worden. Ich bin also der Meinung, dass die Reorganisation des Sparkassensystems eine klassische, anerkennenswerte schöne fachliche Leistung ist. Der erste Abschnitt dessen ist auch beendet worden. Jetzt wird das Unglück dadurch verursacht, dass dieser ganze Prozess, der meiner Ansicht nach positiv ist, sich mit einer anderen Angelegenheit verbunden hat, die mit der Post, der FHB-Bank zu tun hat, an dieser Stelle erscheint auch der von Ihnen erwähnte Name des Bankeigentümers, das heißt, die dort sich ereignenden Dinge haben auf irgendeine Weise die Angelegenheit des Sparkassensystems erreicht, sich darauf impostiert. Dies hat der Bankenverband und Sándor Demján zur Sprache gebracht. Deshalb musste ich mit ihnen sprechen. Und es tauchten alle möglichen Zweifel und Vorbehalte auf. Auch früher hatte es hier schon rechtliche Verfahren gegeben, die versucht hatten, die Fakten zu klären. Dies ist jetzt stärker geworden, und die Klärung dieser Zweifel, dieser Vorbehalte – hier können wir laut der Äußerung des Herrn Präsidenten vielleicht sogar von Verdacht oder Anklage sprechen – erfolgt im Augenblick im Rahmen eines vorschriftsmäßigen polizeilichen Verfahrens.

Es gibt noch eine Angelegenheit, in der die Klärung läuft. Der das Kabinettsbüro des Ministerpräsidenten leitende Minister wurde vergangene Woche durch die Aussage des im Übrigen für den Prisztás-Mord schon verurteilten Tamás Portik belastet. Er sagte, er hätte an Antal Rogán Schmiergelder zahlen müssen, damit die Tante von Árpád Habony billiger an Immobilien gelangen konnte. Antal Rogán bestritt übrigens diese Behauptungen und wird wegen falscher Aussage Strafanzeige gegen Portik stellen, oder er hat es schon getan. Haben Sie Antal Rogán gefragt, was geschehen ist?

Selbstverständlich nicht.

Weil Sie wissen, was geschehen ist?

Nein, sondern weil ich mich nicht mit Kriminellen beschäftige, also wenn ein Krimineller ein ungarisches Regierungsmitglied beschuldigt, dann ist das auch noch kein ausreichender Grund für ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten.

Aber Máriusz Révész hat zum Beispiel gesagt, er stimmt dem zu, dass ein Krimineller etwas gesagt hat und die Behauptung in Zweifel gezogen werden kann, doch seiner Ansicht nach muss das untersucht werden. Ihrer Meinung nach?

Nun, das werden die Betroffenen entscheiden. Wenn ich es richtig verstehe, dann gibt es hier juristische Verfahren, doch ich, der Ministerpräsident Ungarns, bin nicht bereit, mich mit der Meinung eines wegen Mordes oder in irgendeiner anderen Angelegenheit verurteilten Kriminellen zu beschäftigen.

Dann nehme ich an, Sie betrachten diese Angelegenheit als abgeschlossen.

Ich habe sie nicht einmal geöffnet.

Sprechen wir über die Fußball-EM. Dass es ein historischer Erfolg ist, den Ungarn erreicht hat, das erkennen – abgesehen von ein-zwei Zweiflern – im Wesentlichen alle an. Dieser gewaltige Erfolg hat, das kann man deutlich sehen, die Menschen, das Land einander näher gebracht. Darin gehen aber die Meinungen auseinander, in welche Richtung es weitergehen soll, und auch darin, welchem Umstand dieser Erfolg zugeschrieben werden soll. Wie sehen Sie das?

Zuerst Mal: Hut ab, denn dies ist eine schwierige Sportart. Dies ist der Sport der Kämpfer, und zwar der eleganten Kämpfer, denn man muss ja nicht zum Faustkampf gehen. Man muss ein großes Herz für diesen Sport haben, eine starke Seele, großen Willen und ernsthafte Vorbereitung. Wer hier besteht, der ist jemand. Man kann hier also nicht zufällig bestehen, besonders nicht so oft nacheinander, weil wir nicht nur draußen haben bestehen müssen, sondern auch in einem KO-Hin-und-Rückspiel hinausgelangen mussten, was seelisch noch belastender ist. Also Hut ab. Die andere Sache ist, dass es sich lohnt, hinter unsere Helden, oder unsere Spieler zu schauen, denn sie alle sind von jemandem erzogen worden. Nachwuchstrainer, kleine Klubs, einer kommt aus einem ganz kleinen Dorf, ein anderer stammt aus einer ganz zurückgebliebenen Region, mit ihnen hat sich jemand beschäftigt. Anständige Menschen haben sich mit ihnen beschäftigt, die in ihnen das Talent erkannt haben oder wenn sie das Talent nicht gesehen haben, dann haben sie auch gedacht, es ist richtig, wenn wir uns mit solchen Kindern beschäftigen, hier steckt also die Arbeit von vielen-vielen tausend Menschen, von Sportlehrern, Trainern, in den Klubs arbeitenden älteren Zeugwartinnen, Putzkräften darin. Und wenn wir jetzt den Hut abnehmen, dann lüften wir ihn für die Spieler, doch zugleich drücken wir auch unseren Respekt für diejenigen aus, die dazu beigetragen haben, dass sie hierher gelangen können. Auch ich habe dreißig Jahren in Umkleidekabinen zugebracht, ich weiß genau, wie viele Menschen arbeiten müssen, damit ein Klub funktioniert. Hierin die die kleinen Kinder zum Training bringenden Großeltern, die Omas mit inbegriffen, wir reden also über unzählige Menschen. Dies ist eine große Sache. Und dann ist es vielleicht auch wichtig, darüber zu sprechen, dass wenn du aus dem Blutkreislauf der Welt hinausgefallen bist und aus dem Kreislauf eines weltweit derart populären, deshalb von allen betriebenen Sportes, dann kann man, wenn du dorthin zurückklettern willst, dies nur mit systematischer Arbeit erreichen. Man kann nicht von der Gänseweide mit einem Schritt auf die Weltbühne hinauftreten, sondern wir müssen uns aus der Situation, in der wir sind, herausziehen, jahrelang muss man arbeiten, minutiöse Arbeit muss verrichtet werden, die Trainerausbildung, der Nachwuchs, die Klubs müssen entwickelt werden, vieles muss getan werden, damit dann am Ende der Erfolg entstehen kann. Und natürlich ist ein, jetzt in diesem Fall deutscher Trainer notwendig, der das meiner Ansicht nach unbezweifelbare ungarische Talent auch mit der Tugend der regelmäßigen Arbeit vereint, und eine derartige eigentümliche Mischung erschafft, die dann uns zu internationalen Erfolgen führen kann.  Zugleich ist es sehr wichtig, in den größten Momenten des Erfolges am meisten maßhaltend zu sein. Je erfolgreicher man also ist, desto nüchterner und klarer muss man die eigene Situation sehen, ansonsten kann man überrascht werden. Wir müssen also wissen, wer wir sind und wo wir sind, und was die Arbeit ist, die wir bereits verrichtet haben, und welche jene sehr viele Arbeit ist, die uns noch bevorsteht. Ich würde uns selbst hieran erinnern. Und natürlich jetzt, wo wir mit den Belgiern spielen, wächst das Herz eines jeden Ungarn auf das Doppelte oder er wird auf einmal zwei Herzen haben, jeder denkt, wie es bei Shakespeare heißt, „Her mit dem Löwen!“, doch ich möchte uns auf die Tugend des Maßhaltens aufmerksam machen, hinzufügend, dass wir den Fußball aus dem Grunde lieben, weil alles geschehen kann. Deshalb lohnt es sich, der Mannschaft aus ganzem Herzen die Daumen zu drücken, was auch immer das Ergebnis sein wird, wir sind vor dem Spiel, und das Gesetz des Fußballs lautet, dass alles geschehen kann. Hieran lohnt es sich zu glauben.

Ich nehme an, Sie werden auch keinen Tipp über das Ergebnis abgeben.

Nein. Aber ich werde dort sein, und werde unter den Ungarn sein, die versuchen werden, den Ball in das Tor zu blasen.

Jene ungarische Einstellung, auf die auch Sie hingewiesen haben, dass nun offensichtlich jeder erwartet, Ungarn würde die EM gewinnen, das zeigte sich übrigens auch sehr deutlich im Anfeuern der Mannschaft, dass im Grunde ein jeder das Gefühl hatte, die Ungarn sind da und sie sind die Sieger, auch dann, wenn sie nicht so eine Leistung gezeigt hätten. Dies war deutlich daran zu sehen, wie gefeiert wurde. Es hat in den vergangenen Jahrzehnten vielleicht kein einziges solches Freudenfest gegeben wie jenes, das auf den Straßen Budapests, Ungarns zu erleben war.

Dies ist ein… Wir alle sind eines visionären Erlebnisses teilhaftig geworden, dies nennt man einen Zustand der Gnade, der jetzt schon seit Tagen anhält. Dies ist ein Gefühl, wie wenn sich in dem Menschen der Gedanke formuliert, dass das, was gerade geschieht, von der Zeit und dem Raum losgelöst worden ist. Auch wenn ich an die drei Gefechte des französischen Feldzuges zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass dies immer geschieht. Dies hat also kein Ende, dies steht also außerhalb von Zeit und Raum, und solange ich leben werde, werde ich immer so daran denken, dass es gerade noch passiert, als ob es gerade jetzt dort vor mir wäre. Dies ist eine großartige Sache, im Sport ist dies eine großartige Sache, deshalb sind wir auch so viele nicht nur in den Fußball verliebt, sondern auch in anderes, denn hier waren unsere Eishockeyspieler, und unsere Schwimmer sind doch auch in Ordnung. Also gibt es hier noch Sportarten, im Turnen scheinen wir Zeichen einer Art Zurückkletterns sehen zu können, vielleicht auch noch in der Athletik. Also hier muss man sagen, dass die Ungarn ein Talent für den Sport besitzen, und zwar haben sie Talent zu gleichzeitig vielen verschiedenen Sportarten. Und dies ist auch eine große Motivation für die Kinder, dies ist eine antreibende Kraft, der Sport ist eine gute Sache, er lehrt noble Dinge, er gehört zur schönen Seite des Lebens. Die Regierung muss nicht lange klug daherreden, die Regierung muss den Sport als eine nationale Sache behandeln, man darf nicht erlauben, dass sie zur Parteipolitik wird, und man muss möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, diesem großartigen Erlebnis auf Grund seiner eigenen Fähigkeiten und auf seinem Niveau teilhaftig zu werden. Deshalb muss der Sport als nationale Sache betrachtet werden, ich habe nie zugelassen, dass der Sport in den Morast der parteipolitischen Debatten versinkt, auch dann nicht, wenn sehr viele ihn gerne dorthin hätten herabwürdigen wollen. Also muss man ihn außerhalb der Politik und hoch über ihr halten, denn die größte Sache im Sport ist schließlich doch, dass wir im Sport immer in erster Person Plural reden, dort ist das Wir. Also wenn Katinka ins Ziel gelangt, dann haben wir gesiegt. Natürlich hat sie gesiegt, aber am Ende haben auch wir gesiegt. Und wenn wir als Gruppenerster weiterkommen, dann sind wir weitergekommen, und wir haben die Österreicher geschlagen, und wenn wir dann irgendeinmal verlieren, dann werden wir verlieren, hier gibt es also nur das Wir, und das gibt der Sache ihre Großartigkeit.

Dies war auf der Straße deutlich zu sehen. Zehntausende sich freuende Menschen. Sie hörten Viktor Orbán, den Ministerpräsidenten Ungarns.