Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn” von Radio Kossuth
4. September 2020

Katalin Nagy: An den vergangenen beiden Tagen lag die Zahl der Neuinfektionen über dreihundert. Obwohl die Experten sie später erwartet haben, so scheint doch die zweite Welle der COVID-Epidemie angekommen zu sein. Ich begrüße im Studio Ministerpräsident Viktor Orbán. Was ist jetzt die Aufgabe der Regierung? Das frage ich auch aus dem Grund, denn jene, die im April Bedenken äußerten, warum so viele Krankenhausbetten freigemacht werden mussten, sind jetzt besorgt, ob es genügend freie Krankenhausbetten geben wird, wenn das Virus sich weiter so verbreitet.

Guten Morgen! Es gibt immer Menschen, die sich Sorgen machen, in der Familie ist das ja auch so. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn wir dies auch im landesweiten Maßstab sehen. Wichtig ist, dass es auch Menschen gibt, die handeln. Man muss zwischen der Besorgnis und dem Handeln ein gutes Verhältnis finden. Wir sind Herrn Minister Kásler und Herrn Minister Pintér zu Dank verpflichtet, denn sie haben nach dem Sieg über die erste Welle der Seuche die Hände nicht in den Schoß gelegt, sondern sie sagten, es werde eine zweite Welle geben, wir sollten sofort mit der Vorbereitung beginnen, und sie haben sich den ganzen Sommer über damit beschäftigt. Wir haben den Operativen Stab aus diesem Grund nicht aufgelöst, sondern ihn arbeiten lassen. Wenn wir also schon so eine militärische Sprache gebrauchen, dann muss ich sagen, wir erwarten die zweite Welle des Virus bis an die Zähne bewaffnet. Wir sind klüger, als wir es waren, zum Teil weil es Erfahrungen gibt. Im März haben wir nur geschaut, was für eine Art von Virus das ist, woher es gekommen ist, wie es ist, was man mit ihm anfangen kann? Jetzt haben wir aber doch die Erfahrungen vieler Monate hinter uns und wir haben auch eine Nationale Konsultation. Es ist die Auffassung, die Philosophie unserer Regierung, dass du allein niemals klug genug sein kannst. Es wäre zwar angenehm, dies zu glauben, doch die Tatsachen widerlegen das regelmäßig. Gut ist es also, wenn möglichst viele Menschen möglichst viel sagen können, wenn sie sich möglichst viel abstimmen und wir möglichst viele Punkte des Einverständnisses erschaffen können. Die Verteidigung hängt davon ab, der Erfolg der Verteidigung hängt darüber hinaus, dass die Regierung handlungs- und aktionsfähig sein muss, was wichtig ist, davon ab, ob die Menschen den Maßnahmen zustimmen, sie akzeptieren, sie unterstützen. Und die Nationale Konsultation ist eine große Hilfe. Jetzt liegt die Zahl bereits sehr hoch, es haben also 1 Million 700, 1 Million 800 tausend Menschen den Fragebogen zurückgeschickt, was in Europa doch eine beispiellose Sache ist. Die westeuropäischen Ministerpräsidenten sind auch immer überrascht, wenn wir uns darüber unterhalten, dass eben 1 Million 800 tausend Menschen sich in der Küche mit der Frau oder dem Mann oder mit dem Kind hinsetzen, den Fragebogen der Regierung hervornehmen, und sie nicht zum Teufel schicken. Sie sagen: „Na, schauen wir mal, worum es letztlich geht.“ Und dann opfern sie eine bestimmte Zeit, damit sie in eine große gemeinsame Entscheidung einfließen können. Das gibt auch dem Land eine große Stärke und auch der Regierung.

Was ist aber jetzt die Aufgabe der Regierung? Die Experten sagen ja, dass während in der ersten Welle das Durchschnittsalter der infizierten 64 Jahre betrug, beträgt es jetzt zu Beginn der angestiegenen Infektionen, wenn wir es untersuchen, 31 Jahre. Zugleich sehen wir, dass die Zahl jener, die im Krankenhaus sind, nicht in dem Ausmaß zugenommen hat wie die Zahl der Infizierten. Zugleich sagen die Experten, diese 31 Jahre werden in vier Wochen auch noch mehr sein. Man müsse also befürchten, dass dann auch die Älteren von der Seuche erreicht werden.

Wir haben drei Dinge auf einmal. Am wichtigsten ist es ja, Leben zu retten. Von einer Krankheit kann man genesen, aus dem Tod können wir nicht zurückkommen. Und da die Alten am ehesten in einer gefährdeten Lage sind, müssen wir sie auch im Weiteren schützen, und ich halte das für die wichtigste Aufgabe. Gleich danach folgt die Schaffung der Voraussetzungen für die Arbeit an den Schulen, also dass wir auf unsere Kinder achten. Und gleich danach folgt die dritte Aufgabe, die darin besteht, dass die Wirtschaft nicht nur funktionsfähig bleibt, sondern wir sie auch in Schwung bringen können, denn wenn man die Wirtschaft wieder anhalten müsste, kämen wir alle in eine sehr schwierige Situation. Diese drei Dinge haben wir also vor uns. Die Verantwortung der Jugendlichen hat nun zugenommen. Was Sie hier so kompliziert als das Alter ausdrücken, bedeutet, dass viele Jugendliche infiziert worden sind. Sommer, die Jugendlichen sind zusammen, sie haben es auf einander übertragen. Es ist also genau das geschehen, was mit uns passiert wäre, wenn sich dies in meinem Fall sagen wir vor dreißig, ihn Ihrem Fall sagen wir vor zehn Jahren ereignet hätte. Man konnte also wissen, dass in dem Moment, in dem die Jugendlichen frei sind, der Sommer beginnt, dies Folgen haben würde. Aber jetzt haben wir Herbst. Also müssen wir die Jugendlichen mit großem Respekt darum bitten, sich selbst auch an diese Situation anzupassen. Und das ist eine ernsthafte Sache, dass jetzt am Ende das Leben der Alten auch in ihren Händen ist. Wenn also die Jugendlichen undiszipliniert sind, nicht an der gemeinsamen Verteidigung teilnehmen können oder wollen, dann bringen sie das Übel in erster Linie nicht über sich selbst, denn sie werden dann genesen, sondern sie bringen über die Alten ein sehr-sehr großes Übel. Das Leben der Eltern und der Großeltern ist jetzt also auch in der Hand der Kinder, ist in erster Linie in ihrer Hand. Ich bitte also die Jugendlichen, so gut zu sein und die wenigen Regeln, es gibt nicht viele, aber diese wenigen Regeln, die es gibt, einzuhalten!

Professor Merkely sagte dieser Tage, man könnte die Epidemie im Laufe von vier-fünf Wochen erledigen und sie überstehen, wenn die Menschen diese einfachsten Regeln einhalten würden. Aber – um darauf zurückzukommen – wird es in ausreichender Zahl Krankenhausbetten geben, wenn sie notwendig sein sollten?

Schauen Sie, wir haben große Kapazitäten bereitgestellt und haben auch die Übungen durchgeführt. Ich weiß also, dass es im Frühling hier eine große Diskussion gab, Sie erinnern sich vielleicht an sie, ob man die Krankenhausbetten damals wirklich hatte räumen müssen, wieviel man hätte müssen und auf welche Weise. Ich sage immer, wer Soldat gewesen ist, der versteht es vielleicht leicht, dass es eine gute Sache ist, wenn Waffen in der Waffenkammer vorhanden sind und auch der Seesack voll ist, aber manchmal muss man ihn auch auspacken, also ausprobieren. Auch die Waffen muss man ab und zu zur Schießübung hinausnehmen. Das ungarische Gesundheitswesen wurde also im Frühling einer Probe, einer Übung unterzogen, damit wir genau wissen können, was man selbst in der schlimmsten vorstellbaren Situation machen muss. Mit genau welchem Bett welchen Krankenhauses wird was geschehen? Wir wissen es ganz konkret. Mit etwas Übertreibung könnten wir auch sagen, wir kennen die Beatmungsgeräte namentlich, wir wissen, wo sich welches befindet, wohin es gebracht werden muss, wenn es Probleme gibt. Ja, inzwischen haben wir schon eigene Herstellungskapazitäten etabliert. Es kann nicht vorkommen, dass in der Welt eine Knappheit eintritt und wir darunter leiden, da wir jetzt alles herstellen können, was wir benötigen, den Impfstoff ausgenommen. Was aber am wichtigsten ist und dann die endgültige Lösung mit sich bringen wird. Doch damit wird man, soweit ich das sehe, warten müssen. Es gibt einen Wettlauf in der Welt, doch kenne ich vorerst keine Nachrichten, die beruhigen würden.

Experten sagen, wir hätten etwa 440 tausend Tests während der Zeit der Epidemie durchgeführt. Es gibt Experten und es gibt Oppositionspolitiker, die sagen, man müsste viel mehr Tests durchführen. Ja es gab vor dem Beginn des Schuljahres hier auch die Idee, vielleicht kam sie von der Demokratischen Gewerkschaft der Pädagogen, man müsste alle Schüler kontinuierlich täglich testen. Nun, ich weiß nicht, wie sie sich das im Fall von sagen wir 1 Million 200 tausend Schüler vorgestellt haben, aber es gab so einen Vorschlag.

Es ist verständlich, dass wenn ein Übel am Fenster oder an der Tür anklopft, wir den Angriff nicht zurückschlagen können, dann beginnt das Suchen nach Ideen. Ein jeder hat eine gute Idee. So eine ist auch die des Testens. Ein jeder hat eine Idee, wie man testen müsste. Und das ist auch kein Problem. Doch ist es sehr wichtig, nichts zu überstürzen, und die internationalen Organisationen verfügen über eine Praxis, die sich über eine längere Zeit herausgebildet hat. Also auch ich höre alles Mögliche, am Ende muss man also nur die Entscheidung treffen. Ich schlage also schön das Protokoll, die Ratschläge, die Gesichtspunkte der WHO, also der internationalen Weltgesundheitsorganisation auf, die das Wissen sehr vieler Länder beinhalten, und wir gehen entsprechend dieses Protokolls vor. Das Testen haben wir also auch schon bisher entsprechend den internationalen Standards durchgeführt, und das werden wir auch im Weiteren tun. Außerdem sollten wir unseren eigenen Erfolg nicht geringschätzen. Natürlich steckt die ganze Welt in Problemen, auch Ungarn ist ein Teil von ihr, und trotzdem sind in Ungarn einige hundert Leute an dieser Krankheit gestorben, doch sollten wir das Gewicht dieser Leistung nicht unterbewerten, das sich im internationalen Vergleich zeigt! Es ist also eine gute Sache, hieran, daran und auch noch an etwas anderem zu verändern, doch sollten wir nicht vergessen, in ganz Europa haben wir uns am erfolgreichsten verteidigt, glaube ich. Deshalb sollten wir also bei der Veränderung vorsichtig sein, nicht damit wir eine schlechtere Situation verursachen, als jene, die wir bisher erreichen konnten. Ich betrachte in erster Linie die Zahl der Todesfälle. Also das Ergebnis der Verteidigung misst Ungarn in Menschenleben. Und ich sehe, wir haben dort die erste Schlacht gewonnen. In Schweden, meiner Meinung nach leben dort etwa so viele Menschen wie bei uns, da sind zehnmal so viele Menschen gestorben wie in Ungarn. Dort beläuft sich die Zahl der verstorbenen Menschen bereits schon auf etwa sechstausend. Ich sehe mir die spanischen, die französischen Zahlen an. Die Krankheit hält also in Ländern, die besser gestellt sind als wir, bittere Ernte, hat mehr Opfer als in Ungarn. Wenn das so ist, dann sollten wir sehr vorsichtig damit sein, welches Element unseres Verteidigungssystems wir verändern, nicht damit wir gerade genau die gegenteilige Wirkung erzielen. Ich habe das Gefühl, dass wir über ein kompaktes, gutes System verfügen, in dem angefangen mit den Hausärzten die Wahrnehmung der Krankheit, das Zurückverfolgen der Kontakte, das Testen, das Verhalten am Arbeitsplatz, die sich auf die Alten beziehenden Regeln so zusammen ein komplettes Verteidigungssystem ergeben. Und das hat sich bisher bewährt. Natürlich wäre es am Vollkommensten, wenn es kein einziges Opfer geben würde und niemand krank wäre. Nun schaut aber die Welt nicht so aus. Wir haben also ein kompaktes System. Bevor wir etwas daran erneuern, sollten wir es uns dreimal überlegen, ob wir etwas verändern, nicht damit wir uns dem Klub der Länder anschließen, die eine viel schlechtere Leistung als wir erbringen. Wir sollten uns freuen, dass wir und noch einige mitteleuropäische Länder sich gut behaupten. Wir sollten keine Lücke im Schild öffnen.

Am 1. September sind jene Reisebeschränkungen in Kraft getreten, die durch die Verschlechterung der Epidemielage begründet waren. Wer also aus dem Ausland kommt, der darf nur in Ausnahmefällen einreisen, die meisten Ausländer, die hierher an die Grenze kommen, dürfen nicht nach Ungarn einreisen. Diese Grenzsperre plant die Regierung für etwa vier Wochen und sie sagt, danach würde die Frage überprüft werden. Aber dann haben Sie mit denen aus Tschechien, der Slowakei und Polen eine Ausnahme gemacht, die über eine gebuchte Unterkunft verfügen, und das wird ja auch umgekehrt stimmen. Also wenn Ungarn sagen wir nach Prag fahren möchten und die Unterkunft gebucht haben, dann können sie hinfahren. Dazu reicht ein Test. Hierauf sagt aber die Europäische Union, das sei Diskriminierung, und sie hat sich in einem Brief an die ungarische Regierung gewandt. Was antworten wir darauf?

Ich verstehe den Gedankengang der Europäer oder der Europäischen Union oder der Brüsseler Bürokraten, ich halte sie auch nicht für unbegründet, schließlich ist das ja ihre Aufgabe. Doch müssen sie verstehen, dass sich zwischen den vier Ländern jetzt schon eine sehr tiefgreifende Zusammenarbeit im Seuchenschutz herausgebildet hat. Wir stimmen uns also regelmäßig miteinander ab, wir kennen einander, wir wissen, wer was macht. Wir befinden uns also in einer ziemlichen Sicherheit nicht nur seitens unseres Landes, sondern auch von der Seite der in den anderen drei Ländern der V4 durchgeführten Verteidigung. Sie sind auch nicht zufällig erfolgreich, ihre Zahlen sind gut. Wir wissen, was sie tun. Mit ihnen ist die Zusammenarbeit also leichter als sagen wir mit den an der Küste des Atlantischen Ozeans fern von uns liegenden Ländern, in denen die Zahlen schlechter aussehen und wir auch gar nicht genau verstehen, was sie machen. Die Schweden verteidigen sich ja noch nicht einmal. Ich will also damit sagen, dass wir unsere Beziehungen zu jedem Land dementsprechend formen müssen, über wie tiefe Kenntnisse wir über die dortige Verteidigung im Bereich des Seuchenschutzes verfügen. Und zweifellos besitzen wir das ausführlichste Wissen im Zusammenhang mit den V4. Österreich ist im Übrigen auch ein Land, über das wir viel wissen und wir stimmen uns viel ab, doch damit würde ich noch warten. Jetzt lassen Sie mich etwas zur Grenzschließung sagen. Es gibt also in Ungarn eine Debatte darüber, ob man sich eher im Inland verteidigen muss oder die Grenzen schließen? Das ist keine allzu kluge Debatte, denn die Sache ist kein Entweder-Oder. Das Virus ist bereits drinnen. Seine Verbreitung drinnen, in Ungarn, muss man verlangsamen, bremsen, abdrängen. Doch muss man auch die Nachschublinien abschneiden. Deshalb musste die Grenzschließung eingeführt werden. Es gibt im Übrigen, natürlich Ausnahmen, denn leben muss man ja. Der Transitverkehr geht weiter, der kleine Grenzverkehr, wer zum Arbeiten über die Grenze fährt, das kann auch weiter funktionieren. Dann jene, die in geschäftlichen Angelegenheiten kommen. Für Sportereignisse, im Rahmen der Kulturdiplomatie darf man die Grenze unter den notwendigen Sicherheitsmaßnahmen doch überqueren. Wir sind also nicht vollkommen borniert und verschließen unsere Türen, sondern wir haben ein regelgemäßes, normales, durchdachtes neues System eingeführt. Statt des Systems A gibt es jetzt das System B. Auch heute gibt es eine Regierungssitzung, nach dem Gespräch mit Ihnen werde auch ich an ihr teilnehmen, und wir werden die Einzelheiten all dessen weiter verfeinern, damit wir so gut wie möglich den Punkt erreichen, den ich als den Zustand der möglichst größten Freiheit bei allen notwendigen wichtigen Einschränkungen bezeichne. Es ist nicht einfach, diesen Punkt zu markieren. Es geht hier auch um die kleinen Detailregelungen des alltäglichen Lebens. Aber es arbeiten ja ernstzunehmende Stäbe daran, das momentan vernünftigste Maß der Beschränkungen zu treffen.

Aber wenn die Europäische Union sagt, hier gibt es doch eine Diskriminierung, denn der Tscheche darf ja hereinkommen, aber – sagen wir – der Franzose nicht, und sie eröffnet ein Pflichtverletzungsverfahren gegen Ungarn, dann berufen wir uns vergeblich darauf, dass die EU und Brüssel gesagt hatten, sie würden ein Protokoll für solche Fälle erarbeiten. Die Frage ist natürlich, wann das geschieht? Denn diese Entscheidungen müsste man jetzt treffen und die Maßnahmen jetzt einführen. Und sie sagen, sie würden noch ein bisschen darüber nachdenken.

Schauen Sie, in der Politik ist nicht nur wichtig, vor einer Entscheidung möglichst viele Menschen anzuhören, sondern auch das Selbstvertrauen. Und sie können jetzt sagen, was sie wollen, aber mit der nötigen Bescheidenheit sage ich, dass sie in einigen Tagen das tun werden, was wir tun. Wie oft haben wir denn dies schon gesehen? So war es auch mit der Migration, nicht wahr? So war es mit der Wirtschaftspolitik, so war es im Seuchenschutz. Sie haben uns attackiert, haben uns kritisiert, und dann haben sie nach einiger Zeit das übernommen, was wir gemacht hatten. Auch sie werden die Epidemie nicht im Zaum halten können, wenn sie nicht an der Grenze eine vollkommen neue Praxis einführen. Sie werden dem ungarischen Beispiel folgen und dann wird die ganze Angelegenheit von der Tagesordnung verschwinden.

Auf den Beginn des Schuljahres haben wir bereits hingewiesen. Hier sind aber viele Dilemmata aufgetaucht. Es ist auch weiterhin so, dass wenn sich die Lage dahingehend gestaltet, dann muss man Änderungen vornehmen, dann kann man den traditionellen Unterricht nicht einmal im öffentlichen Schulwesen, also in der Grund- und in der Mittelschule fortführen. Was ist der Standpunkt der Regierung in dieser Frage? Wie viele infizierte Kinder muss es geben, damit Sie sagen: „Hier bleiben wir jetzt stehen und kehren zum Onlineunterricht zurück“?

Betrachten wir, wie dies im Frühling geschah! Nachdem die Sicherheit am wichtigsten war, haben wir für alle Schulen eine allgemeine Regel aufgestellt. Das ist meiner Ansicht nach verständlich und es war vielleicht auch die richtige Entscheidung. Du stehst einem unbekannten Gegner gegenüber, dann errichte lieber zwei-drei Verteidigungslinien. Jetzt beobachte ich aber, dass es Siedlungen gibt, in denen das Virus erscheint, und an anderen Orten kommt es nicht einmal vor, also: Es erscheint dort nicht. Folgerichtig muss keine allgemeine Regel angewandt werden. Deshalb haben wir ein Protokoll für die Schulen ausgearbeitet, haben den Schuldirektoren Kompetenzen gegeben und haben die Zuständigkeit für die Einstellung des Unterrichts auf die zentrale Ebene zurückgebracht. Wir werden also jede einzelne Angelegenheit untersuchen, und wenn wir den Eindruck haben, das Maß der Infektion sei an einer Schule derart stark, dass es besser wäre, sie zu schließen und dort sich auf den digitalen Unterricht umzustellen, dann werden wir das tun. Doch folgt daraus nicht, dass dies auch in einem Dorf oder in einer Kleinstadt gemacht werden müsste, wo man noch nie ein mit Corona infiziertes Kind gesehen hat. Jetzt wird also unsere Verteidigung elastischer, ausgefeilter, sich an das tatsächliche Leben auch in der Schule besser anpassend sein als im Frühling, als wir – ich sage es noch einmal – eine strenge, rigide, alle über einen Kamm scherende Verteidigung angewandt haben. Da wir aber den Gegner nicht kannten, war dies damals begründet. Jetzt wissen wir schon, dass der eine Teil unseres Schulsystems auf diese Weise funktionieren kann, eine andere Schule auf eine andere Weise und eine dritte wiederum anders. Sicherlich ist der digitale Unterricht, so gut sich der Begriff auch anhören mag, nicht so gut, als wenn die Lehrer sich persönlich mit unseren Kindern treffen können. Denn das Lernen bedeutet ja nicht einfach das Einsammeln der auf elektronische Weise aufsaugbaren Informationen, sondern es ist die Bildung des Charakters, das Zusammensein, das Erklären und das tiefere Verständnis der Dinge. Und dazu ist es notwendig, dass sich unsere Lehrer mit unseren Schülern treffen können. Ich bin den Lehrern im Übrigen dafür dankbar, dass sie in solchen Zeiten, in denen man hin- und hergerissen wird, in denen die Dinge einmal so und das nächste Mal auf eine andere Weise getan werden müssen, sich so schnell angepasst haben und ihre Arbeit an den Umständen gemessen hervorragend versehen haben. Und ich bitte sie, sie fühlen, dass das Land ihre Arbeit mit großem Respekt zu schätzen weiß, und sie sollen auch weiterhin das tun, was sie bisher getan haben, das heißt sie sollen unsere Kinder lieben und alles tun, was in ihrer Macht steht, um auch möglichst häufig sich mit ihnen treffen zu können. Soweit ich das sehe, sind die Lehrer mutig, im März war natürlich die Besorgnis eher stärker, denn auch sie wussten nicht, welche gesundheitlichen Folgen es haben kann, wenn sich jemand dieses Virus einfängt. Jetzt wissen auch sie schon mehr, und soweit ich es sehe, sind sie nun eben „mutiger“, ich glaube, das ist das richtige Wort. Sie bestehen nicht darauf, den Unterricht auch unter solchen Bedingungen aufzugeben, unter denen er noch fortführbar ist. Doch wird das immer eine Einzelentscheidung erfordern. Wir haben das System hierfür ausgebildet, wir haben ein Protokoll, das sie erhalten haben.  Wenn wir zusammenarbeiten und kooperieren, dann wird dies eben gehen.

Die Ärzte bzw. die im Gesundheitswesen Beschäftigten haben ja am 1. Juli eine einmalige Summe und Unterstützung erhalten als Dank für die aufopferungsvolle Arbeit, die sie verrichtet hatten. Jetzt im September dankt die Leitung des Unterrichtswesens jenen kleinen Siedlungen, dankt für die Arbeit jener Lehrer, die sich mit mehrfach benachteiligten Kindern und in diesen Regionen beschäftigen, denn sie haben ja mehr Arbeit. Plant die Regierung, diese Art der Anerkennung auch im Späteren fortzusetzen, und wenn Angehörige einer weiteren gesellschaftlichen Gruppe oder eines Berufs dies benötigen bzw. für ihre Arbeit gedankt werden muss, werden Sie das tun?

Schauen Sie, auch mich hat diese Entscheidung überrascht. Der Minister hat sie im Rahmen seiner eigenen Zuständigkeit getroffen. Er hatte den Eindruck, dies würde in das Budget des Ministeriums hineinpassen. Ich gratuliere ihm dazu, denn ich denke, er hat eine gute Entscheidung getroffen. Doch habe auch ich dies mit Überraschung gesehen, wenn es auch eine positive war, denn das ist ein Eingriff in eine alte Debatte. Die Debatte geht ganz bis 1990, ja vielleicht auch noch auf früher zurück. Wir waren noch im zarten jugendlichen Alter und die Rundtischgespräche gegen die Kommunisten wurden darüber geführt, wie wir sie von hier verdrängen und wie wir die Freiheit erringen sollten. Schon damals hatten wir Arbeitsgruppen, es existierten noch solche Parteien wie MDF und SZDSZ, und wir haben  mit ihren Experten zusammengearbeitet, also wir vom FIDESZ, und es ging darum, dass es zurückgebliebene, grundlegend kleine Siedlungen im Land gibt – es wäre nicht fair zu sagen, es seien die Siedlungen, in denen die Zigeuner in der Mehrheit sind, doch im Großteil dieser Siedlungen lebt die Minderheit der Zigeuner in einer bedeutenden Zahl –, in denen die Arbeit, die ein Pädagoge oder ein Arzt verrichten muss, nicht die gleiche Aufgabe und Herausforderung darstellt wie in irgendeiner Schule oder einer Poliklinik sagen wir im zentralen Budapester 5. Stadtbezirk. Und wir haben es schon damals in den neunziger Jahren gesehen, dass wenn wir nicht etwas unternehmen, dann werden sich die Pädagogen und die im Gesundheitswesen Arbeitenden nicht um diese Arbeitsplätze reißen, sie werden nicht unbedingt in irgendein kleines Dorf am Rand des Landes in Borsod oder der Region Nyírség oder eben in ein kleines Dorf in der Branau (Baranya) gehen wollen. Und schon damals dachten wir darüber nach, wie man es die Gesellschaft akzeptieren lassen könnte, wie man die Gesellschaft davon überzeugen könnte, dass wer an einem solchen Ort eine Arbeit annimmt, in dessen Fall wir irgendeinen Multiplikator anwenden sollten. Nicht so wie jetzt der Minister, nicht als eine einmalige Zahlung, sondern als ein Teil des Systems. Sagen wir auf die Weise, dass es im Interesse der in den kleinen Siedlungen Lebenden, im Interesse dessen, dass die Menschen und Kinder, die in den unter schwierigen Bedingungen existierenden Siedlungen leben, den Anschluss an die anderen Landesteile schaffen, es irgendeine spezielle Quote, Berechnungsweise usw. geben sollte. Das war vor dreißig Jahren und wir haben meiner Meinung nach auch seitdem noch keine Entscheidung getroffen, die in dieser Angelegenheit hätte getroffen werden müssen. Die inneren Diskussionen waren heftig: „Wenn hier, dann warum in anderen Bereichen nicht? Wie muss man das genau definieren?“ Jetzt haben wir ein bisschen hineingegriffen, hat der Minister in diesen Ameisenhaufen hineingegriffen, hat den Menschen Geld gegeben, er hat es richtig gemacht. Jene, die es bekamen, die freuen sich darüber, doch ist das keine Lösung auf der Systemebene. Hierauf wird man in den kommenden Monaten zurückkommen müssen.

Diese Woche gab es in Bled eine strategische Besprechung, in erster Linie haben führende Politiker der mittel- und südeuropäischen Länder daran teilgenommen. Auch sie haben dieses Gespräch besucht, und Sie haben so formuliert, Sie haben Ihre Worte damit begonnen, Europa habe Probleme. Und ob man dies wohl in beiden Teilen Europas sehe und ob man sehe, welche Rolle, welche Aufgabe Mitteleuropa bei der Lösung dieses Problems haben könnte?

Man sieht es, natürlich, nur spricht man jetzt ja etwas befremdlich darüber, denn die Energien von einem jeden sind gebunden durch das Virus, dessen gesundheitliche Auswirkungen, den Schutz der Alten, den Schulanfang, den Schutz der Wirtschaft. Also in solchen Zeiten der Epidemie ist die Aufnahmebereitschaft für solche strategischen Angelegenheiten nicht allzu scharf und stark. Dementsprechend rede auch ich vorsichtig darüber, weil ich das Gefühl habe, diese Gedanken würden jetzt nicht auf den richtigen Boden fallen, der Keim kann sich nicht entfalten, denn die Menschen denken über andere Dinge nach. Aber wenn Sie mich schon gefragt haben, dann sage ich, dass die Welt vor – sagen wir – 15 Jahren so ausgesehen hat, dass wenn wir uns die Gesamtheit der Weltwirtschaft angesehen haben, ich rede also nicht von Europa, sondern das Ganze der Weltwirtschaft, und wir darauf geschaut haben, woher in einem Jahr, in dem vorhergehenden Jahr die Investitionen kamen, haben wir gesehen, dass etwa 81% aller Investitionen in der Welt aus dem Westen kamen und 18% von ihnen aus dem Osten. 15 Jahre sind vergangen. 40% aller Investitionen kommen aus dem Westen und 58% aus dem Osten.

Es hat sich alles beinahe umgedreht.

Natürlich. Und die Tendenz ist eindeutig. Es gibt hier eine große Veränderung in der Welt, in der es darum geht, wo der Platz des Westens, des westlichen Menschen, der westlichen Welt, Europas, und innerhalb dessen Mitteleuropas sein wird. Denn offenkundig befinden wir uns inmitten eines großen Veränderungsprozesses. Dies zu verstehen, die Anpassung daran, die Ausarbeitung einer Strategie dafür auf nationaler Ebene ist intellektuell die schönste und schwierigste Aufgabe meiner Arbeit. Ich beschäftige mich täglich mehrere Stunden damit, diese Tendenzen zu verstehen, sie zu analysieren, mit den Wissenschaftlern, die sich damit beschäftigen, zu konsultieren, die möglichen – nicht Gegenschritte, jedoch – Reaktionen auf europäischer und ungarischer Ebene auszuarbeiten. Dies beansprucht also sehr viel Zeit von meiner Arbeit, davon sehen die Menschen nichts, denn dies hängt nicht mit dem Seuchenschutz und der Verteidigung gegen die Epidemie zusammen. Doch ist das eine sehr spannende Aufgabe, und Europa ist vorerst nicht in der Lage zu bestimmen, wo sein Platz in zehn Jahren sein wird. Ich erinnere mich, ich habe 2012 eine grundlegende Studie gelesen, die Brüssel geschrieben hat, die EU besitzt ein Forschungsinstitut, und sie geben regelmäßig Studien heraus. Ich sage dies jetzt nur in Klammern: In jener Studie aus 2012 habe ich auch die Behauptung Brüssels gefunden, die Migration sei eine gute Sache und man werde sie unterstützen müssen, 2012. 2015 ist dann die Migrationskrise ausgebrochen. Ich wusste also 2015, wohin ich greifen muss, in welcher Schublade sich jene Studie befindet, in der die Brüsseler niedergeschrieben hatten, dass das, was jetzt geschieht, gut sei. Wie auch immer, doch war dies grundlegend eine Studie über die Wirtschaft. Und 2012 schrieb Brüssel, der europäische Beitrag zur Gesamtproduktion der Welt werde bis 2050 auf das Niveau von 15-17% zurückgedrängt werden. Jetzt haben wir 2020 und da sind wir auf diesem Niveau. Alle Prozesse verlaufen viel schneller, das Zurückweichen Europas erfolgt viel schneller als früher. Jetzt ist es die Wahrheit, dass die Antwort auf europäischer Ebene die großen Jungs finden müssen. Diese Angelegenheit wird also nicht Ungarn lösen. Das müsste Deutschland lösen, die Briten, die ja auch eine Antwort gegeben haben, denn sie sind aus der EU ausgetreten. Sie haben uns für hoffnungslos befunden. Oder Frankreich, sie müssen also die Antwort auf diese strategischen Fragen geben. Wir können uns daran anpassen, doch nicht wir bestimmen hier den Gang der Dinge. Wir können eine Sache machen, unsere eigenen Hausaufgaben. Und Mitteleuropa ist in einem sehr guten Zustand. Und ich riskiere die strategische Bemerkung, dass so wie ich mir die Zahlen ansehe, ich die Ergebnisse der polnischen Wirtschaft sehe, wir werden eine Überraschung erleben, da in zehn Jahren Polen das neue Deutschland Europas sein wird.

Vielen Dank! Sie hörten Ministerpräsidenten Viktor Orbán.