Viktor Orbáns Interview mit der Tageszeitung „Magyar Nemzet”
25. Mai 2019

Herr Ministerpräsident, die Wahlen am Sonntag wird der Fidesz gewinnen, während die oppositionellen Parteien jeweils für sich und wahrscheinlich auch zusammengenommen eine Niederlage erleiden. Was steht hier für die Wähler noch auf dem Spiel?

Die Chancen muss man auch verwirklichen, und das ist immer die Aufgabe der Wähler, sie werden entscheiden, ob tatsächlich dies das Ergebnis sein wird. Und es steht natürlich auch noch etwas anderes bei den Wahlen am Sonntag auf dem Spiel. Sie sind zum Beispiel dazu geeignet, Schlussfolgerungen über die Arbeit sowohl der Regierung als auch der Opposition zu ziehen. Wichtig ist auch, dass – obwohl wir Abgeordnete des Europäischen Parlaments wählen – die Ergebnisse die Regierungen bzw. die Regierungschefs im Europäischen Rat stärken oder auch schwächen können. Ungarns Kraft hängt in der Diskussion über die Zukunft Europas also davon ab, wie die ungarischen Wähler am Sonntag entscheiden. Die wichtigste Frage der Zukunft Europas ist die der Einwanderung, das heißt jene Frage, ob wir die kulturelle Identität, die sich auf christliche Grundlagen aufbauende Zivilisation unseres Kontinents bewahren. Hierüber gibt es eine große Diskussion, denn viele halten dies nicht für wichtig, weshalb das Gewicht des in der Angelegenheit der Einwanderung eingenommenen  ungarischen Standpunkts die Ergebnisse vom Sonntag bestimmen werden. Die Wähler können die Einwanderung dann aufhalten, wenn sie Abgeordnete nach Brüssel senden, die die Einwanderung ablehnen. Es ist nicht egal, in was für einem Europa unsere Kinder und Enkel  aufwachsen werden. Wem die Zukunft Ungarns und Europas wichtig ist, der muss am Sonntag zur Wahl gehen. Die Anhänger der Einwanderung werden alle dort sein, seien auch wir dort!

Sie betrachten die Einwanderung als die wichtigste Frage der europäischen und der ungarischen Politik. Ist diese Lagebeurteilung nicht zu dramatisch? Ungarns Südgrenze wird durch den Zaun geschützt, und die ungarische Regierung hat schon mehrfach deklariert, sie nehme keine Migranten auf. Können wir nicht sagen, dass diese Frage gelöst sei?

Wir können nur soviel sagen, dass wir vorerst dem Druck standhalten. Vorerst. Jene sehr starke Brüsseler Bestrebung, ganz Europa umzuformen, bedeutet für uns eine ständige Bedrohung. In Europa gibt es Politiker, Parteien, Regierungen, geschäftliche Interessengruppen, intellektuelle Netzwerke und geistige Zentren, nach deren Ansicht Europa die christliche Kultur und das Zeitalter der nationalen Geschichte hinter sich lassen müsste, und es sollten die Vereinigten Staaten von Europa, ein Imperium mit gemischter Bevölkerung geschaffen werden, in dem dann weder die auf dem Christentum sich gründende Identität noch die Zugehörigkeit zu einer Nation etwas bedeuten wird, weil all dies sich auflöst und verschwindet. Diese Bestrebung ist sehr stark und es gibt Vertreter von ihr auch in Ungarn. Sie sind es, die dem Brüsseler Vorbild folgend die Einwanderung nicht aufhalten, sondern organisieren wollen. Die europäische Linke möchte aus dem Grund ein Europa mit gemischter Bevölkerung, weil sie in Wirklichkeit die Nationen liquidieren will, und die Kraft Europas liegt in den erfolgreichen Nationalstaaten. Meiner Überzeugung nach kann man in dem vor uns liegenden Jahrzehnt in Ungarn nicht auf die Weise Politik machen, dass man nicht die Migration für die wichtigste Frage hält. Aber um ganz klar zu formulieren: Wenn in den vergangenen Jahren eine linke Regierung in Ungarn an der Macht gewesen wäre, dann würden unsere Städte heute so aussehen wie manche deutsche oder französische Städte, denn Migranten aus Afrika oder dem Nahem Osten wären zu Hunderttausenden hier.

Das bestreitet jede linke Partei, sie deklarieren ständig, sie würden den Zaun nicht abbauen und würden die verpflichtende Ansiedlungsquote nicht akzeptieren.

Und die gleichen linken Parteien haben in Europa kontinuierlich jene Beschlüsse unterstützt und unterstützen sie auch jetzt, die auf die Schaffung einer gemischten Bevölkerung abzielen. In jedem einzelnen Fall haben sie zusammen mit den die Einwanderung befürwortenden Kräften gestimmt. Von den Kandidaten der ungarischen Parteien kann man nur auf die Politiker des Fidesz zählen. Unabhängig davon, was sie gerade sagen, hat sich die gesamte ungarische Opposition unter der Flagge der Anhänger der Einwanderung versammelt, sie vertreten Brüssel in Ungarn und nicht die ungarischen Menschen in Brüssel. Und in Brüssel sind die Schreibtischschubladen voll von Plänen zur Beschleunigung der Migration. Migrantenbankkarte, Migrantenvisum, die mehrere Milliarden Euro betragende Unterstützung für die die Einwanderung befürwortenden Organisationen von Soros. Das muss gestoppt werden, das Geld muss zum Schutz der Grenze und zur Unterstützung der Familien verwendet werden.

Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten die ungarische politische Rechte vereinigen können. Sehen Sie dies auch als Ihre Aufgabe auf europäischer Ebene an?

Nein. Wir müssen wissen, wozu wir Kraft haben und wozu nicht, und auf Grund dessen müssen die Ziele gesteckt werden. Wir beschäftigen uns ausschließlich nur aus dem Grund mit den europäischen politischen Verhältnissen, weil uns Ungarn wichtig ist. Hier gilt die Definition von József Antall, nach der wir Ungarn sind, also Europäer. Wir betrachten die Welt nur durch die ungarische Brille, unsere Außenpolitik vertritt nur ungarische Interessen. Natürlich würde es eine große Hilfe sein, wenn die über die Einwanderung und die Zukunft Europas auf eine uns ähnliche Weise denkenden Parteien und Politiker, in erster Linie in Mitteleuropa, stärker werden würden. Bei den Wahlen am Sonntag steht als eine Sache auf dem Spiel, eine wie große Kraft die aus der mitteleuropäischen Region kommenden Abgeordneten in Brüssel werden darstellen können, ob diese Region in der Lage sein wird, die deutsch-französische Kooperation um einen dritten Akteur zu erweitern.

Wie auch immer die einzelnen Politiker und Parteien der Europäischen Volkspartei sein mögen, die Volkspartei ist ein Machtzentrum. Es ist besser, der Volkspartei anzugehören, als außerhalb ihr zu stehen. Sie hatten einmal gesagt, wer in Brüssel nicht am Tisch sitzt, der kann sich schnell auf der Speisekarte wiederfinden, und die Volkspartei sitzt immer am Tisch. All das abwägend: Verbleibt der Fidesz in der Volkspartei?

Diese Frage kann ich jetzt noch nicht beantworten. Wir bleiben dann in der Volkspartei, wenn es das Interesse Ungarns ist, dort zu bleiben.

Sind Sie der Ansicht, das Bleiben oder das Gehen hängt von dem Fidesz ab?

Ja, es hängt von uns ab. Und dies hängt davon ab, in welche Richtung sich die Volkspartei bewegt. Das wissen wir noch nicht. Die Frage der Einwanderung hat die EVP in zwei Teile geschnitten, es gibt gleichermaßen Mitte-rechts-Parteien, die die Einwanderung unterstützen, und solche, die sie ablehnen, und das spaltet unsere Parteienfamilie. In dieser Situation wird die Rolle der Regierungschefs im Vergleich zu den Parteien eine Aufwertung erleben, und das markanteste Zeichen dafür ist das Stärkerwerden der Visegráder Vier, innerhalb derer vier Ministerpräsidenten zusammenarbeiten, die Mitglieder von vier verschiedenen Parteienfamilien sind.

Kehren wir zurück nach Ungarn. Die ungarische Opposition marschiert gegen Sie in der gleichen Formation auf wie bisher schon immer, obwohl sie seit dem vergangenen Jahr viel zorniger wirkt.

Das darf einen nicht überraschen. Schließlich bedeutet die Demokratie zugleich zwei Dinge. Einerseits erhalten die Menschen die Möglichkeit, an wichtigen gemeinsamen Entscheidungen teilzunehmen, und indem sie ihren Willen zum Ausdruck bringen, zu bestimmen, was für eine Regierung entstehen soll. Unsere Regierung ist dreimal nacheinander gewählt worden, das verursacht sicherlich Frustrationen für jene, die immer wieder unterlegen waren. Andererseits bedeutet die Demokratie auch, dass infolge der Entscheidung der Wähler funktionsfähige Regierungen entstehen sollen. Vor 2010 gab es das nicht, denn jene, die linken Parteien und Politiker, denen die Menschen ihr Vertrauen geschenkt hatten, konnten keine stabilen Regierungen bilden, und nur sehr wenige Menschen glauben ihnen, dass sie dazu in der Zukunft in der Lage wären. Deshalb besteht jene seltsame Situation, dass sich bei den ungarischen Wahlen herauszustellen pflegt, dass es in Wirklichkeit eine Stimmung zur Abwahl der Opposition gibt, denn das oppositionelle Angebot stellen Parteien dar, die über kein Programm verfügen, die keine Ideale besitzen, und an deren Spitze bis auf den heutigen Tag ein Mensch steht, in dessen Händen die ungarische Linke in ihre Bestandteile zerfallen ist. Trotz allem erkenne ich die Bestrebungen der Opposition an, ich erkenne in vielen von diesen die Absicht, zu der Arbeit etwas hinzuzufügen, durch die wir die Lage Ungarns zu verbessern versuchen. Nur wissen sie nicht wie, denn sie haben sich als Ausgangspunkt die Haltung gewählt, jede Zusammenarbeit mit der Regierung zu verweigern, und sie können über alles nur Schlechtes sagen. Das ist zwar ein kämpferischer Stil, doch dadurch stehen sie nicht nur der Regierung, sondern auch den ungarischen Menschen gegenüber.

Die Parteien der Opposition sind durch einen einzigen Faktor miteinander verbunden, das ist der Hass auf Sie. Dieser ist aber heute schon derart stark, dass er dazu geeignet ist, sie, die Linke, die Grünen, den Jobbik in ein Lager zu vereinigen. Hierauf baut sich der Zusammenhalt der Opposition auf.

Ich werde überschätzt. Nicht ich behindere sie dabei, zu siegen, sondern die ungarischen Menschen. Seit neun Jahren besitzt Ungarn eine auf nationaler und christlicher Grundlage stehende, sehr stabile Regierung, und die Oppositionspolitiker und die hinter ihnen stehenden Think-Tanks müssten endlich verstehen, dass dies nicht irgendeine Art von Unfall, sondern die kulturelle Identität dieses Landes ist. Das ist das Fundament, das ist jene ungarische Welt, deren Ziele, Sehnsüchte, Bestrebungen jene Regierung zum Ausdruck bringt, an deren Spitze heute ich stehe. Doch hängt dies nicht von der Person ab, die an der Spitze steht, sondern davon, dass wir das, was wir vertreten, die Liebe zur Heimat, der Respekt für die europäische christliche Kultur, die Unterstützung der Familien, der Schutz der Arbeitsplätze, das Streben nach Vollbeschäftigung, die Anhebung des Minimallohns und die Sicherheit, zu den obersten Gesichtspunkten gemacht haben, und diese stehen alle in Einklang mit den Werten der ungarischen Menschen. Das, was die Opposition forciert, die Vereinigten Staaten von Europa, die Einwanderung, die Genderthemen, damit sich das traditionelle System der Verhältnisse zwischen Mann und Frau verändert und dass die Familie eine beliebig variierbare Form des Zusammenlebens ist, dass die Nation nichts anderes sei als ein kulturelles Missverständnis, dass die Einwanderung schön und gut sei, das sind alles Gedanken, die dem Denken der großen Mehrheit der ungarischen Gesellschaft fremd sind. Die Ungarn wollen ihre Reihen nicht mit Migranten auffüllen, sondern sie wollen Kinder und Enkel, sie wollen, dass die Regierung die Bemühungen anerkennen soll, die sie im Interesse ihrer Familien unternehmen, und die Regierung soll ihre Arbeitsplätze schützen. Die ungarische und die europäische Zukunft hängt davon ab, ob wir unsere auf christlichen Werten basierende Identität und Kultur bewahren können. Am Sonntag steht die Zukunft Europas auf dem Spiel. Ich habe ein aus sieben Punkten bestehendes Programm zum Aufhalten der Migration zusammengestellt, dafür bitte ich um die Unterstützung der Ungarn. In Brüssel werden viele dagegen sein, ich bitte also die ungarischen Menschen um eine starke Unterstützung, denn ich kann dies in Brüssel nur mit ihrer Hilfe vertreten.