Interview der deutschen Passauer Neuen Presse mit Viktor Orbán
20. Oktober 2016

Herr Ministerpräsident, die Feier im Bayerischen Landtag am Montag hat für einen Eklat gesorgt. Ihre Gegner in Deutschland nennen Sie „Europas schlimmsten Autokraten“ und einen „Europazerstörer“. Man hätte ihnen im Landtag kein Forum bieten dürfen, denn damit falle man denen in den Rücken, die sich in Ungarn für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Fühlen Sie sich missverstanden?

Am schlimmsten ist es in der Politik, wenn man abgestempelt wird. Besser ist es, wenn man Fakten für sich sprechen lässt. 1956 gab es in Ungarn einen Freiheitskampf – geführt für die schönsten Ziele. Viele hundert Menschen haben für die Freiheit ihr Leben gelassen. Als wir Ungarn in Schwierigkeiten steckten, hat Bayern uns geholfen. Es gehört sich, dass man daran erinnert. Dagegen sind alle Vorwürfe kleinlich. Die Feierlichkeit fand in einem würdigen Rahmen statt. Was den politischen Teil der Dinge anbelangt: Es gibt eine Treibjagd der Linken gegen mich. Das erinnert mich an die Zeit, als wir 1988/89 begonnen haben, Politik zu machen. Die linken Parteien Europas vergeben mir nicht, weil ich ihre große Legende Gyula Horn im Wahlkampf geschlagen habe. Ungarn war unter Gyula Horn vorschnell als linkes Land verbucht worden. Europas Linke wollte ein linkes Ungarn – und hat es nicht bekommen. Dafür macht man mich verantwortlich. Man versucht, mich zu einem gefährlichen Mann zu stilisieren, man versucht, mich zu isolieren. Und egal, wo in Europa ich aufkreuze, es wird versucht, einen Skandal zu inszenieren.

Sie haben in Deutschland auch politische Freunde, etwa in der CSU von Horst Seehofer, die finden, man müsse Ihnen dankbar sein, weil Sie mit einem Grenzzaun Europas Außengrenze sichern. Erwarten Sie Dankbarkeit?

Dankbarkeit ist keine politische Kategorie. Es gibt in Ungarn einen Spruch: Wenn Du Dankbarkeit willst, dann halte Dir einen Hund. Wir Ungarn mögen die deutsche Art: Die Deutschen lieben Regeln. Und für sie ist es am schlimmsten, wenn Regeln nicht eingehalten werden. Sogar schlimmer, als wenn es gar keine Regeln gäbe. So denkt auch Ungarn. Das internationale Recht, die Vereinbarungen von Schengen und Dublin sind eindeutig: Die Außengrenzen Europas müssen von den jeweiligen Ländern geschützt werden. Das ist die Grundlage für die Bewegungsfreiheit innerhalb Europas. Ungarn tut nichts weiter, als europäisches Recht, europäische Vereinbarungen zu erfüllen. Wir leben in einer absurden politischen Welt, wenn derjenige attackiert wird, der seine Pflicht erfüllt, und für denjenigen eine Entschuldigung gesucht wird, der nicht seine Pflicht erfüllt. Hätten die Griechen ihre Außengrenze geschützt, wäre es nicht zur Migrationskrise gekommen. Das ist die Wahrheit – unbequem, aber wahr.

In Berliner Kreisen um Bundeskanzlerin Angela Merkel findet man, Sie würden Merkel Dankbarkeit schulden – weil Merkel mit der Bereitschaft, Flüchtlinge aus Ungarn in Deutschland aufzunehmen, Ihnen viele Probleme erspart hat. Sind Sie Merkel dafür dankbar?

Das ist nicht die Wahrheit. Ich nehme an, die damaligen Aufzeichnungen sind vorhanden. Ich habe der Bundeskanzlerin gesagt: Wenn Sie die Entscheidung trifft, aus Ungarn Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, dann bedanken wir uns natürlich dafür – weil es den Druck innerhalb Ungarns reduziert. Ich habe aber betont, dass ich nicht darum Bitte und dass Ungarn es vermag, das Problem auch alleine zu lösen. Wir akzeptieren Hilfe, aber wir bitten nicht darum. Ich habe ihr gesagt, dass sie damit rechnen könne, dass wir die Grenzen Ungarns schützen und von Ungarn aus auch keine einzige Person in Richtung Österreich kommen wird. Das könne nur passieren, wenn sie darum bitte. So war es dann auch.

Was hätten Sie getan, wenn Österreich und Deutschland die Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen hätten?

Es gibt in Ungarn Flüchtlingslager, wir hätten die Migranten dorthin gebracht. Das Problem wurde damals dadurch verursacht, dass die Ankommenden sich selbst als nach Deutschland eingeladen betrachteten. Sie hatten das Gefühl, man würde sie in Deutschland erwarten und willkommen heißen. Sie zitierten Angela Merkel und zeigten Selfies, die sie mit Flüchtlingen gemacht hatte. Diese Menschen wollten nach Deutschland und haben nicht verstanden, dass wir Ungarn sie nicht lassen. Sie bezeichneten uns als herzlos. Es wäre vergebens gewesen, einem syrischen Flüchtling zu erklären, dass es in Europa das Schengen- und Dublin-System gibt. Sie haben das Ganze nicht verstanden und die Zusammenarbeit mit den ungarischen Behörden verweigert. Hätten Deutschland sie nicht geholt, hätten wir sie mit Polizeigewalt in die Flüchtlingslager gebracht. Das wäre kein schöner Anblick gewesen – und wir selbst hätten das auch nicht gemocht. Aber wir dürfen der Anarchie keinen Raum lassen.

In Deutschland und vielen Teilen Europas herrscht die Ansicht, Ungarn habe Probleme mit Muslimen. Sehen wir zu wenig, dass Ihr Land jahrhundertelang Europas Front gegen die Osmanen war?

Ungarn denkt auf recht gesunde Art über Muslime. Wir betrachten den Islam als eine Zivilisation. Wo es keine Zivilisation gibt, herrscht Barbarei. Der Islam hat einen sehr schwierigen Teil der Welt zivilisiert. Das war eine große Leistung, dem zollen wir Respekt. Wir haben aber auch eine andere Erfahrung gemacht. Die dem Christentum entsprungene Zivilisation und die dem Islam entsprungene Zivilisation passen nicht zueinander. Sie können sich nicht vermengen, sondern nur nebeneinander existieren. Das ist im Nahen Osten und auch in Europa so. Die Auffassung über die Welt unterscheidet sich in einem solchen Maß, dass das zu Parallelwelten führt. Es ist keine politische Frage, sondern Lebensrealität. Hinzu kommt ein anderer Aspekt: Muslime bekommen viele Kinder – mehr Kinder als wir Europäer. Wir Europäer setzen uns selbst vor alles, oft sogar vor Kinder. Wenn wir in großer Anzahl Muslime aufnehmen, ist es eine simple Frage der Mathematik, abzuschätzen, wie das Land in 20 Jahren aussieht. Das politische Problem besteht darin, dass die Menschen immer im Heute leben. Politische Planungsräume reduzieren sich immer mehr auf die vier oder fünf Jahre, die eine Legislaturperiode dauert. Politiker fühlen sich immer weniger dafür verantwortlich, was in 15-20 Jahren ist. Wo Muslime in großer Zahl hinkommen, wird sich die Welt in 20 Jahren völlig verändert haben. Diese Veränderung findet nicht rasant statt, sondern Tag für Tag ein bisschen. Wissen Sie, wie man Frösche kocht.

Wie?

Man erwärmt das Wasser langsam. Dem Frosch fällt das gar nicht auf. Aber auf einmal ist er gekocht. Uns europäischen Christen droht es, ebenso zu ergehen – das ist meine Befürchtung. Wir müssen die zukünftigen Auswirkungen unserer heutigen Entscheidungen berücksichtigen. Und das stellt uns vor folgendes Problem: In Europa gibt es Länder, die sich entschlossen haben, Einwanderungsländer zu werden. Man sieht daran nur die positive, sozialromantische Seite – man will die Vereinigten Staaten werden, wo aus vielen Einwanderern ein herrliches Land geworden ist. Auch Deutschland scheint das so zu wollen und verändert künstlich die Zusammensetzung der Bevölkerung. Das deutsche Volk sieht dahinter etwas Großartiges, Humanes, es ist das Streben nach dem Guten. Deutschland hat das Recht, das zu machen. Wir Ungarn aber sehen uns völlig anders. Wir sind keine Nation von Einwanderern und werden es auch nicht sein. Die Frage ist: Haben wir das Recht, so zu entscheiden? Ich finde, niemand kann uns zwingen, ein Einwanderungsland aus uns zu machen. Die Ungarn wollen das nicht. Letzten Endes zählt doch, was die Menschen wollen.

Ihre Gegner sagen, Ungarn nehme sehr gerne Geld von der EU, aber zur europäischen Solidarität gehöre eben auch, die Vereinbarung – etwa zur Umverteilung von Flüchtlingen – und europäische Werte einzuhalten.

Das ist zunächst eine Frage der Ehre. Wenn jemand auf nationaler Ebene entscheidet, Migranten ins Land zu lassen, dann kann man die Folgen nicht auf andere Nationen umverteilen. Berlin ist für die Folgen seines Handelns verantwortlich und kann nicht über den Umweg Brüssel die Folgen an andere delegieren. Nationale Entscheidung, nationale Folgen – internationale Entscheidung, internationale Folgen. Zweitens: Ungarn zum Vorwurf zu machen, wir nähmen nur Geld von der EU, verletzt unser Selbstwertgefühl. Denn es zeigt nur die eine Seite der Medaille. Zur Wahrheit gehört auch, dass die alten und reichen Mitgliedstaaten der EU sehr viel Geld an und in Ungarn verdienen. Ungarische Arbeiter bekommen für die gleiche Leistung weniger als deutsche Arbeiter. 40 Jahre Kommunismus bedeuteten für uns einen enormen Wettbewerbsnachteil – dennoch haben wir unsere Märkte geöffnet. Um aufzufangen,  dass uns das enorme Kapital der restlichen EU-Länder überrollt, erhalten wir Geld aus den Kohäsionsfonds der EU – damit wenigstens ein Teil des Geldes zurückgegeben wird, um unser Land zu entwickeln. Die Kohäsionspolitik ist sehr vernünftig. Noch stecken wir mittendrin in diesem Prozess. In zehn bis fünfzehn Jahren werden wir einen gleichen Entwicklungsstand und einen echten, einheitlichen Markt haben. Allerdings halte ich es für politisch außerordentlich unglücklich, diese Zuwendungen jetzt in Frage zu stellen. Das stellt statt der gemeinsamen Ziele nur die Widersprüche in den Mittelpunkt, noch dazu gibt es gemäß keinem der getroffenen Vereinbarungen einen Zusammenhang zwischen Kohäsionsfonds und Flüchtlingspolitik. Und drittens muss ich auch mal ganz deutlich sagen: Ungarn gibt immens viel Geld für den Schutz der europäischen Außengrenze aus – für ungarische Verhältnisse mindestens so viel wie Deutschland für Flüchtlinge. Das ist eine schwere finanzielle Last, und dafür bekommen wir von der Union nicht mehr als Peanuts. Aber es ist europäische Solidarität pur, die Ungarn da zeigt, und wir bitten darum, das auch als Solidarität zu sehen. Es gibt in Europa Länder, die von deutschem Geld leben wollen. Für jedes Problem, das in diesen Ländern auftaucht, lautet die erste Idee immer: Deutsche Gelder in Anspruch nehmen. Ungarn ist kein solches Land. Wir wollen nicht von deutschem Geld leben. Wir haben auch dem IMF und der EU die gewährten Kredite vorzeitig zurückgezahlt.

In welchem Zustand sehen Sie Europa? Bei Ihrer Rede im Landtag haben Sie gesagt, Europa brauche keine Reformen, es müsse erneuert werden? Was genau meinen Sie damit?

Die Welt verändert sich rasant – und Europa betreibt in aller Ruhe eine Nabelschau. Unsere Rivalen ziehen an uns vorbei, beispielweise, was die Digitalisierung angeht. Die Amerikaner sind uns meilenweit voraus, die Asiaten werden stärker. Die atlantische Ära ist vorbei, wir stehen vor einer pazifischen Epoche – vier der fünf größten Volkswirtschaften entstehen im pazifischen Raum, der Welthandel der Zukunft wird im pazifischen Raum stattfinden. Europa tut zu wenig, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein.

Was sollte Europa denn tun?

Wir arbeiten uns zu sehr ab an gesellschaftlichen Problemen. Wir müssen unsere Auffassung über die soziale Marktwirtschaft reformieren – und uns auf die eigentliche Idee von Ludwig Erhard besinnen. Wirtschaft muss wieder stärker auf Arbeit und die Herstellung von technisch hochqualitativen und wettbewerbsfähigen Produkten basieren. Stattdessen führt die weitere Aufrechterhaltung der sozialen Marktwirtschaft dazu, die Umverteilung von Hilfsgeldern immer stärker voran zu treiben. Europa wird als eine auf Hilfsgeldern basierende Gesellschaft keine Zukunft haben.

Ist für Sie denkbar, dass Ungarn seine Zukunft außerhalb der EU sucht?

Die EU-Mitgliedschaft Ungarns ist unerschütterlich. Wir sind seit Jahrhunderten eingeklemmt zwischen drei Welten: Europa, Russen und Moslems. Ungarn ist ein christliches Land mit westlicher Denkweise. Deshalb ist unser natürlicher Platz in Europa, dem schönsten Teil der Welt. Wir sprechen viel über die Probleme Europas, aber Europa ist ein phantastischer Kontinent mit vielen großartigen Dingen. Es ist gut, dieser Gemeinschaft anzugehören. Ungarn macht 0,2% der Weltbevölkerung aus – wir sind ein kleines Land, das stets Verbündete braucht. Und unsere Verbündeten sind hier. Was wir uns vorstellen, ist jedoch ein Europa, das sich nicht abschottet und nicht als Freilichtmuseum lebt, sondern mit regen Beziehungen zum Westen wie zum Osten.

Wie sollten wir mit Russland umgehen?

Wir müssen eine Politik fahren, mit der die großen Mächte dieser Welt von alleine Interesse daran haben, dass Europa erfolgreich ist. Dazu braucht es eine kluge und durchdachte Zusammenarbeit – auch mit Russland und Wladimir Putin. Diese Denkweise ist heute in Europa in der Minderheit, ich könnte auch sagen, dass ich heute in Europa in der Opposition bin. Ich nenne es aber eine Reformopposition: Wir argumentieren und vertrauen darauf, aus der Minderheit eine Mehrheit machen zu können.

Müssen wir militärisch Angst vor Russland haben?

Manche Länder Europas glauben das. Auch befreundete wie Polen und die baltischen Staaten. Wir müssen ihre Auffassung respektieren – und ihnen helfen, sich militärisch sicher zu fühlen. Gleichzeitig haben wir in Ungarn nicht das Gefühl, dass unsere Sicherheit von Russland bedroht wäre. Russland hat auch nicht die Kraft, um in eine militärische Auseinandersetzung mit der NATO zu geraten. Auch deshalb ist die NATO wichtig.

Welche Rolle hat Bundeskanzlerin Angela Merkels für Europa? Und würden Sie es begrüßen, wenn sie im nächsten Jahr wieder Kanzlerin würde?

Ihre Kanzlerin hat unschätzbare Verdienste. Wir haben zehn sehr schwere Jahre hinter uns: Finanzkrise, Völkerwanderung, der wirtschaftliche Rückfall der südlichen Länder, der ins Stocken geratene Euro, der Konflikt in der Ukraine mit Russland. Das war eine sehr schwere Zeit. Ohne ihre Kanzlerin hätte Europa keine guten Antworten geben können, ohne sie wäre Europa schwächer gewesen. Ganz egal, welche politische Diskussion wir im Moment auch führen: Diese Tatsache muss anerkannt werden. Deutsche Bundeskanzler haben in Sachen europäische Einheit stets eine Schlüsselrolle. Ungarn ist in dieser Hinsicht glücklich – weil es mit jedem Bundeskanzler, mit jeder Bundeskanzlerin einen guten Ton gefunden hat. Helmut Kohl respektieren wir wie die eigenen Eltern, Gerhard Schröder haben wir sehr geschätzt und Angela Merkel genießt in Ungarn ebenfalls eine breite Anerkennung. Ich wünsche der Bundeskanzlerin viel Erfolg bei den nächsten Wahlen – auch wenn ich meine Partei, die während der Regierungszeit von Helmut Kohl als „ungarische CDU“ der Europäischen Volkspartei (EVP) beigetreten ist, heute bereits eher als die ungarische CSU bezeichnen würde.

Wer ist ihr Kandidat für die US-Wahl? Trump oder Clinton?

Das Dilemma, zwischen den beiden zu wählen, haben zum Glück nicht wir, sondern die amerikanische Bevölkerung. Der Ausgang der Wahl wird aber sehr wohl einen großen Einfluss auf uns haben. Deshalb müssen wir fragen: Wessen Außenpolitik wäre für uns günstiger? Zwei Aspekte der derzeitigen US-Außenpolitik sind für uns ungünstig. Erstens: Amerika unterstützt die weltweiten Migrationsprozesse. Statt daran zu arbeiten, dass alle dort bleiben, wo sie ihre Heimat haben, betrachten sie die weltweiten Bewegungen als etwas Positives oder zumindest Natürliches. Deshalb wollen sie Migration nicht anhalten, sondern managen. Die Demokraten und Hillary Clinton gehören zu den Managern. Zweitens: Amerika glaubt an den Demokratieexport. Das klingt gut. Aber wo die Amerikaner das versucht haben, wurden oft ganze Regionen destabilisiert – mit oft schwerwiegenden Konsequenzen wie Tod, Leid und Migration. Und oft sind durch freie Wahlen antidemokratische und extremistische Kräfte an die Macht gekommen. Der Glaube an den Demokratieexport ist arrogant, weil er die kulturellen Strukturen von Regionen nicht berücksichtigt. Und ob es uns nun gefällt oder nicht: Kultur definiert die politische Struktur. Donald Trump spricht das offen aus, Hillary Clinton nimmt aber die bisherige Politik in Schutz.