Interview mit Viktor Orbán für Welt am Sonntag
20 Dezember 2020
Autoren: Stefan Aust und Philip Volkmann-Schluck

Viktor Orbán vergleicht Brüssel mit dem Moskauer Zentralkomitee, warnt vor ängstlicher Wirtschaftspolitik und erklärt, wie es zum Bruch mit Deutschlands Konservativen kam.
Um so viel Geld ging es noch nie: 1,8 Billionen Euro. Viktor Orbán hatte angedroht, EU-Mittel in dieser Höhe zu blockieren. Die historischen Corona-Hilfen sowie den Haushalt der künftigen Jahre. Ungarns Ministerpräsident wehrte sich so gemeinsam mit Polen gegeneine neue Regel zur Kontrolle der Ein-haltung des Rechtsstaates. Brüssel will bei Verstößen finanzielle Sanktionen verhängen. Schließlich hat Ungarn doch zugestimmt, das Geld kann fließen, aber die Regel zur Rechtsstaatskontrolle wird milder ausfallen als geplant. Orbán gibt dieses Interview per Video aus seinem Regierungssitz.

Welt am Sonntag: Herr Orbán, wie verlief Ihr letztes Gespräch mit Angela Merkel? Stimmt es, dass die Kanzlerin laut geworden ist?

Nein, die Kanzlerin ist mir gegenüber noch nie laut geworden. Sie ist eine starke Frau. Lautstärke wäre ein Zeichen von Schwäche.

Merkel wurde nach dem EU-Gipfel gefeiert. Weil sie den Rechtsstaatsmechanismus durchgesetzt hat, gegen den Sie sich gewehrt haben. Brüssel darf nun finanzielle Sanktionen verhängen. Trotzdem haben Sie sich zuhause als Gewinner präsentiert. Wie passt das zusammen?

Die Frage ist: Wer hatte hier einen Kampf mit wem? Das EU-Parlament hat die Abstimmung über den Rechtsstaatsmechanismus ohne objektive Kriterien mit dem 750-Milliarden-Paket für Corona-Hilfen verknüpft. Unsere Position war: Das ist unvernünftig. Warum mehr politische Last auf ein Thema legen, wo wir ohnehin in einer komplizierten Krise stecken? Über den Rechtsstaats-Mechanismus können wir danach weiter verhandeln, mit dem klaren Ziel, dass für alle 27 EU-Mitgliedsstaaten verbindliche Kriterien gelten. Die jetzige Lösung ermöglicht das. Es ist also ein Sieg der Vernunft.

Hat die Not der Corona-Krise geholfen, sich zu einigen?

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wollte die Corona-Hilfen und den Sieben-Jahres-Haushalt in einem Paket abhandeln. Das haben alle Mitgliedstaaten unterstützt, wir natürlich auch. Aber das EU-Parlament hat sich nachträglich eingemischt, weil es seine Rolle völlig überschätzt. Die denken, ihre Legitimität sei größer als die der nationalen Parlamente. Das ist absolut falsch. Auf dem Tisch lag ein Nachtrag, der Druck ausüben sollte. Deshalb mussten wir das Veto einlegen.

Laut einer Umfrage befürworten aber auch 77 Prozent der Ungarn einen strengeren TÜV für die Justiz, auch mit Blick auf Korruption. Haben Sie sich mit Ihrem Veto verkalkuliert?

Es klingt nach einem technischen Detail, aber in Wahrheit geht es um die Souveränität aller EU-Mitglieder. Der Rechtsstaat ist bereits in den Europäischen Verträgen definiert. Das Parlament wollte das rechtswidrig umgehen. Angela Merkels Vorschlag für den Beschluss war daher genial: Sie hat klargestellt, dass ein Mechanismus nur nachrangig zum geltenden EU-Vertrag bestehen darf. Nämlich, um Budget-Interessen der EU zu schützen. Zudem müssen Sanktionen erst vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden. Damit sind die Bürger in Ungarn völlig einverstanden.

Kritik an zu viel Einmischung aus Brüssel ist besonders unter Regierungen von ehemals kommunistischen Staaten verbreitet. Warum?

Unsere Sensibilität ist historisch begründet. Ungarn war nie Teil der Sowjetunion, sondern des sowjetischen Imperiums. Wie Polen und Tschechien. Wir wissen, wie es ist, wenn Entscheidungen nicht in unserer Hauptstadt getroffen werden. Im EU-Parlament und bei einigen Regierungschefs beobachten wir die Tendenz, immer mehr nationale Kompetenzen nach Brüssel verlagern zu wollen. Das lehnen wir aus historischer Erfahrung ab. Wir wollen Teil einer Allianz aus starken, vertragstreuen Nationalstaaten sein.

Sie vergleichen Brüssel mit Moskau?

Wir sind kurz davor dran. Früher hat das Zentralkomitee in Moskau ideologische Positionen vorgegeben. Wer sich nicht dran hielt, wurde unter Druck gesetzt. Eine ähnliche Kontrollbehörde, ohne klare juristische Definition, ohne für alle gültige objektive Kriterien, wollte auch EU-Kommissarin Věra Jourová mit dem Mechanismus für den Rechtsstaat einführen. Mitgliedsländer sollen unter Androhung finanzieller Sanktionen gezwungen werden, ideologisch bestimmte Politik umzusetzen.

Im Wortlaut des Rechtsstaatsmechanismus geht es aber um Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Richter. Rahmenbedingungen, die auch Eintrittskarte zur EU waren.

Das ist doch sowieso auch alles Teil unserer Verfassung! Da sind wir vollkommen einig. Wir Ungarn haben diese Werte vor 31 Jahren hart erkämpft. Der wahre Disput mit der EU dreht sich um Familien- und Migrationspolitik, um kulturelle Fragen…

…davon steht aber nichts in der Vereinbarung…

…dann lesen Sie noch mal (lacht). Das alles ist nicht unsere Fantasie. In der ersten Fassung des Zusatzes des EU-Parlaments stand, der Mechanismus könne sich auf jedes andere weitere Thema beziehen. Wir haben einen Haufen Dokumente aus Brüssel, in denen es beispielsweise heißt, die Aufnahme von Flüchtlingen sei Thema des Rechtsstaats-Mechanismus. Aber wir wollen keine Migration. Die Definition ist willkürlich, morgen gehört Familienpolitik dazu.

Bis vor einem Jahr galt ihre Beziehung zu Manfred Weber als vertrauensvoll. Nun haben Sie dem deutschen Fraktionschef der konservativen Volkspartei EVP vorgeworfen, die Ungarn für „Dummköpfe“ zu halten. Wann war der Bruch?

Manfred Weber hat mich vor zwei Jahren in Budapest besucht. Wir haben vereinbart, dass ich ihn bei der Wahl zum Kommissionspräsidenten unterstütze. Nur zwei Tage später hat Weber öffentlich erklärt, dass er nicht Präsident mit den Stimmen Ungarns werden wolle. Hier dachten alle: Was für ein Mann ist das? Hält er uns für Europäer zweiter Klasse? Es ging nicht um mich. Sondern um eine Beleidigung des ungarischen Volkes. Wir haben das Vertrauen verloren.

Die Europapartei EVP, in der auch die deutsche CDU ist, hat Ihre Fidesz-Partei vor einem Jahr suspendiert. Ihnen wird vorgeworfen, Demokratie und Pressefreiheit einzuschränken. Ist dieser Zustand nicht unwürdig?

Diese Anschuldigungen treffen mich nicht, sie sind lächerlich. Mehr als die Hälfte unserer Medien berichten sehr kritisch über die Regierung, jede objektive Untersuchung belegt, dass die regierungskritischen Medien über mehr als 50 % Marktanteil verfügen. Das Problem liegt doch bei der EVP: Fraktionschef Manfred Weber will in Brüssel die gleiche Koalition haben wie in Berlin, wo Christdemokraten mit Sozialdemokraten regieren. Aber dann sind Konservative und Sozialisten bald nicht mehr zu unterscheiden. Nicht wir verlassen die EVP, sondern sie verlässt uns. Ich warne daher: Die EVP muss ihr christlich-konservatives Profil behalten.

Großbritannien verlässt zum Jahresende die EU. Hat Europa zu viele Fehler gemacht?

Der Brexit ist eine Katastrophe. Und ja, die EU hat Fehler gemacht. Das Problem ist, dass Brüssel über Jahre die Meinung und Bedürfnisse der Briten ignoriert hat, auch bei der Besetzung der Position des Kommissionspräsidenten mit Jean-Claude Juncker sind die Briten übergangen worden. Die Briten sind rational, sie wollen freie Märkte, wenig Staat und belohnen Leistung. Mit dem Weggang der Briten ist Europa aus dem Gleichgewicht geraten. Die EU ist immer ideologischer geworden: Höhere Steuern, mehr Staat, weniger Wettbewerbsfähigkeit. Mit Deutschland und Frankreich als einflussreichen Kräften wird die Wirtschaftspolitik immer sozialistischer, es geht mehr um Verteilung und weniger um Leistung, um Modernisierung.

Sie sehen Deutschland dabei als treibende Kraft?

Wir erleben eine globale Neuverteilung der Macht. Vor zehn Jahren hat die EU rund 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung erbracht. Heute sind es kaum mehr als 15 Prozent. Europa verliert seine Stärke im Wettbewerb. Die Antwort aus Brüssel ist aber nicht, Leistung und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, sondern immer mehr Protektionismus. Wir schützen uns, weil wir schwächer werden. Das ist keine gute Richtung.

Die EU nimmt historische Schulden für das 750-Milliarden-Rettungspaket auf. Ungarn hat eine deutlich niedrigere Staatsschuldenquote als etwa Italien. Wären Sie gerne Teil der „Sparsamen Vier“, die gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden eintreten?

Politisch gesehen wäre das logisch. Wir haben von Beginn an klargemacht, dass wir dem Aufbaufonds kritisch gegenüberstehen. Aber weil viele südliche EU-Staaten ohne die Milliarden-Hilfen kollabieren würden, haben wir aus Solidarität zugestimmt.

Die „Sparsamen Vier“, also Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark, würden Sie aber kaum mitmachen lassen. Sie kritisieren vielmehr die Korruption in Ungarn.

Dass wir Ansichten mit einigen Ländern teilen, heißt nicht, dass ihre Gesellschaft für uns attraktiv wäre. Wir wollen gar nicht mitmachen bei den „Sparsamen Vier“. Wir sehen viele Dinge anders. Aber zum Vorwurf der Korruption: Sie ist in Ungarn nicht verbreiteter als in Österreich, Frankreich oder Deutschland.

Der europäischen Anti-Korruptionsbehörde OLAF fallen aber deutlich mehr Verstöße auf, als Ihre nationalen Gerichte sie bemerken. Der Unterschied ist in Ungarn sogar besonders groß. Woran liegt das?

Das Gegenteil stimmt: Wir lassen in Ungarn besonders vielen Warnungen von OLAF auch Ermittlungen folgen. Mehr als jedes andere europäische Land. Übrigens unterliegen Staatsanwälte in Ungarn keinem Weisungsrecht der Regierung, sondern nur dem Parlament. Anders als in Deutschland, wo Justizminister Anweisungen für Ermittlungen geben dürfen.

Sie regieren mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Von so viel Macht können Parteien in Deutschland nur träumen.

Richtig, wir haben eine breite Unterstützung. Dafür werden wir kritisiert, aber ich würde Deutschland das auch wünschen. Es ist wichtig, dass die Bevölkerung in den wichtigsten Punkten mehrheitlich übereinstimmt.

In der Corona-Krise haben Sie aber eine umstrittene Notstandsregel erlassen. Sie können Maßnahmen direkt anordnen, sogar ohne Kontrolle durch das Parlament. Anders als in Deutschland können Bürger nicht einmal gegen Folgen des Lockdowns vor Gericht ziehen. Warum?

Wir müssen schnell handeln können. Tatsächlich, unsere Notfallmaßnahmen gelten. Aktuell gilt eine Ausgangssperre ab 20 Uhr. Nicht alle Bürger mögen das. Das Parlament wird sich in der Rückschau damit befassen. Aber wir haben in Ungarn viel weniger Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen als in Deutschland, nicht zuletzt, weil wir eine große Volksbefragung durchgeführt haben, an der jeder fünfte ungarische Bürger teilgenommen hat. Auf diese Weise haben wir eine breite basisdemokratische Zustimmung für unsere Corona-Politik sichergestellt. Vergessen wir nicht die zwei Grundsätze der alten Griechen zur Demokratie: Neben Mitbestimmung geht es auch um gutes Regieren. Das tun wir in Ungarn.