Unsere Berufung erfüllen – zum dreißigsten Geburtstag der V4
Mitteleuropa hatte im Laufe seiner Geschichte nicht nur eine Rolle, sondern auch immer eine Berufung. Diese Tatsache verdeckte die sowjetische Besetzung der Region bis 1990 vor unseren Augen. Die Aufgabe der modernen Verwirklichung unserer Berufung war so lange nicht deutbar, wie die sowjetischen Soldaten in unseren Ländern stationiert waren und wir nur von dem Wunsch getrieben waren, uns aus dem Warschauer Pakt zu befreien.

Auch dadurch wurde unsere Perspektive eingeengt und wurden unsere Kräfte gebunden, damit wir unsere Kommunisten loswerden und sie nach dem Verschwinden der Bajonette der Besatzer dorthin schicken konnten, wohin sie gehörten. So weit wie möglich weg von der Regierungsmacht, hinein in die schulische Beispielsammlung historischer Sünden, damit unsere Kinder und Enkel daraus lernen könnten, wohin es führt, wenn jemand ohne nationale Ideale und christliche Lehren sich zu Herzen zu nehmen versucht, die Zukunft aufzubauen.

Nach dem Sturz des Kommunismus und der Befreiung unserer Länder waren diese in einem Zustand des Glücksgefühls, aber sie waren auch ziemlich geschwächt. Die Kraftprobe des Überlebens, der großen Umwandlung, die Begründung einer lebensfähigen und sich an die westliche Welt angliedernden neuen Epoche hat all unsere Kräfte beansprucht. Trotzdem diktierte uns unser Herz bereits 1991, dass unsere Länder, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei auf irgendeine Weise würden zusammenhalten müssen. Wir wussten, die Jahrhunderte kommen und gehen, aber die Schicksalsgemeinschaft der mitteleuropäischen Völker bleibt.

Und tatsächlich, nach dreißig Jahren können wir als NATO-Mitglieder und als die dynamischste Region der Europäischen Union auf uns selbst blicken. Hohes Wachstum, niedrige Arbeitslosigkeit, schnelle digitale Umwandlung, robuste Investitionen. Dies sind wir heute.

Mitteleuropa

Die schwierigen Diskussionen innerhalb der EU über die Migration, die demografische Situation, die Rolle der Familien, der Konflikt zwischen der nationalen Kultur und dem Multikulturalismus lenken unsere Aufmerksamkeit erneut auf die historische Berufung Mitteleuropas. Gibt es so eine überhaupt? Und wenn es sie gibt, was ist dann ihre moderne Form? Und die für uns, Ministerpräsidenten, brennendste Frage lautet: Kann die Politik damit etwas anfangen?

Nach der ungarischen Auffassung ist Mitteleuropa jenes Gebiet, das zwischen dem Land der Deutschen und jenem der Russen zu finden ist. Im Norden grenzt es an das Baltische Meer, im Süden an das Adriatische Meer. Und wenn es auch über die genaue Eingrenzung Diskussionen geben kann, so bilden doch zweifellos die V4-Länder das Kerngebiet Mitteleuropas.

Wir, Ungarn, haben schon immer gedacht, wir würden nicht nur einfach so in die Welt geboren. Wenn du als Ungar geboren worden bist, dann hast du auch eine Mission. Deine Mission weist über dich hinaus, besitzt einen europäischen Horizont und eine ebensolche Bedeutung. Wir wissen auch, dass wir diese nur gemeinsam mit den anderen mitteleuropäischen Völkern erfüllen können. Denn auf dem Gebiet zwischen der deutschen und der russischen Welt, das ein an die Orthodoxie grenzendes Gebiet des lateinischen Christentums ist, wo viele Sprachen und Nationalkulturen aufgewachsen sind, existiert eine eigentümliche gemeinsame kulturelle Qualität, eine Lebensbetrachtung, eine Denkweise und eine typische Körperhaltung. Das beweisen hunderte von polnischen, slowakischen, tschechischen und ungarischen Gedichtbänden, Romanen und Filmen. Und unsere Berufung ist es, dies aufrechtzuerhalten.

Der Gedanke der Ungarn über ihre eigene Sendung führt zurück ins Römische Reich. Unserer Auffassung nach haben Europa jene Völker geschaffen, die zu verschiedenen Zeitpunkten, unabhängig voneinander das Römische Reich angegriffen haben. Diese Völker haben ihre Länder auf den Trümmern des einstigen Römischen Reiches gegründet. Sie übernahmen das lateinische Christentum, jedoch gaben sie ihre eigene Kultur nicht auf, und auf diese Weise hat der Hammer der Geschichte verschiedene Legierungen hergestellt.

Damit hatte sich unser Schicksal entschieden, nicht nur Nationalstaaten, sondern auch Nationalkulturen waren geboren. Ein Ideal, ein Gesetz, eine Vorbestimmung war geboren darüber, wie Europa sein muss. Eine große geistige Einheit mit gemeinsamen kulturellen Zielen, Idealen und letzten Zielen. Jedoch mit für sich selbst stehenden, unabhängigen Mitgliedern, die in der Einheit Europas zusammenhängen. Sie alle sind verpflichtet, der geistigen Einheit und den Zielen der europäischen Vorbestimmung zu dienen, sie sind aber nicht verpflichtet, gegenseitig den Interessen der anderen zu dienen. Europa ist eine vielfarbige Einheit. Wer seine Einheit attackiert, ist ein schlechter Europäer, aber ein schlechter Europäer ist auch der, der seine Vielfarbigkeit aufheben will.

Die Einheit der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit. Das ist das Geheimnis Europas, seine verführende Kraft, diese dramatische Spannung verleiht ihm seine Schönheit und das ist sein innerstes Wesen, das sonst nirgendwo anders in der Welt zu finden ist. Deshalb sind die Mitteleuropäer in Europa verliebt. Sie verstehen, dass die Harmonie die Spannung und der Einklang der Gegensätze ist. Die Harmonie bedeutet nicht Uniformität, bedeutet keine eintönige Ungegliedertheit. Von hier entspringt die Berufung der Ungarn und der anderen nach Unabhängigkeit strebenden mitteleuropäischen Völker.

Der Schutz des die Nationen zusammenfassenden Geistes, der christlichen europäischen Kultur gegenüber jedem Angriff, der von außerhalb Europas kommt, ist eine Bastion und ein Schild nach außen, und der Schutz der Vielfarbigkeit gegen die die unabhängigen Nationen überwältigen wollenden, auf Hegemonie abzielenden Bestrebungen ist ein Schutz nach innen. Das war das Geheimnis und die Voraussetzung des europäischen Gleichgewichts und der Stabilität über Jahrhunderte hinweg. Dies ist die europäische Selbstverteidigung, und es scheint so, als ob auch der französische Präsident sich in diese Richtung vortasten würde, wenn er den Gedanken der europäischen Souveränität in Brüssel einführen möchte. Ein doppeltes Selbstverteidigungsgefecht gegenüber äußeren und inneren Gegnern, für die Einheit und die Vielfarbigkeit Europas. Von außen sich erneuernde Angriffe und von ihnen aufflackernde imperialistische Versuche. Dies war die politische Geschichte Europas bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, als unser Kontinent das Recht und die Möglichkeit verlor, über sein eigenes Schicksal bestimmen zu können.

V4 und Europa

Zur Mitte der 2000er Jahre sind wir alle vier der Europäischen Union beigetreten. Neue Horizonte öffneten sich, die Debatten über die Beschaffenheit und die Zukunft Europas wurden auch zu unseren Debatten. Aus Außenstehenden sind wir Mitglieder geworden, notwendigerweise ergab sich die Frage: Was ist der Beitrag Mitteleuropas zur gemeinsamen europäischen Zukunft? Die alten Clubmitglieder haben anfänglich die in ihren Ohren sonderbar klingenden Gedanken über Heimat, Christentum, Familie, Souveränität eher als eine kulturelle und historische Folklore gedeutet. Ich glaube, sie dachten, dies sei irgendeine vorübergehende Erscheinung, die vielleicht aus der späteren Ankunft entspringt, und die dann vorbeigehen wird, wie auch die Windpocken es zu tun pflegen. Schließlich streben wir alle an den gleichen Ort und sicherlich wollen wir auch dorthin gelangen. Das war ein bequemer Gedanke, der niemanden aus seiner Komfortzone hinausstieß, und es gab ja auch so gerade genug professionelle Herausforderungen wegen der Finanzkrise von 2008-2009.

Mit der Migrationskrise war dann der Ärger da. Die Augen öffneten sich, die Nuancen wurden konturierter, und es stellten sich die tiefgreifenden Unterschiede in den Denkweisen, den Philosophien, den die Gesellschaft organisierenden Prinzipien und den persönlichen Engagements deutlich heraus.

Wir, Ungarn, haben damals begriffen, dass die Reden und Schriften über eine nachchristliche, nach den Nationen kommende Epoche nicht volltönende Journalismen, sondern tatsächliche politische Absichten sind, ja dass das europäische Programm selbst, die Zukunft, wie sie sich die Westler vorstellen, fertig ist, ja dass sie sie sogar schon errichten.

Wir verstanden, dass während wir uns unter dem Kommunismus in dem sowjetisierten Gebiet Europas nach einer christlichen und sich auf Souveränität gründenden Lebensform gesehnt hatten, hatten die in der amerikanisierten Hälfte Europas Lebenden das Wesen Europas neudefiniert und sie arbeiteten konsequent an der Durchführung ihres Programms. Sie sahen die Mission Europas nicht in der Abwehr der äußeren Angriffe auf das Christentum und in der Bewahrung der inneren Vielfarbigkeit. Ihre neue europäische Mission besteht in der vollkommenen Offenheit, in dem Nichtbestehen von Grenzen – und wenn doch, dann nur vorübergehend und als notwendiges Übel –, in den beliebig variierbaren Geschlechterrollen und Familienmodellen, in der die Verpflichtung zur Erhaltung des kulturellen Erbes eher als eine museologische Aufgabe betrachtenden Politik. Und das Ziel ist nicht nur das Ausdenken, die Schaffung, die Einführung und die Wandlung all dessen zur juristischen Pflicht in ihren eigenen Ländern, sondern das Ziel ist auch, all dies in jedem Land der Europäischen Union allgemein durchzusetzen, so auch bei uns Widerstrebenden.

Mission

In dieser europäischen Lage ist es den Ungarn klar, worin unsere europäische Mission besteht.

In die gemeinsame europäische Kammer der Werte die kompromisslose antikommunistische Tradition miteinzubringen, den Verbrechen des Nationalsozialismus und den aus ihm folgenden Lehren die Verbrechen des Kommunismus und die aus ihm folgenden Lehren an die Seite zu stellen. Die Schönheit und die Wettbewerbsfähigkeit der sich auf christliche Gesellschaftslehren aufbauenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung aufzuzeigen. In erster Linie unseren französischen Freunden begreiflich zu machen, dass in Mitteleuropa ein christliches Modell zur Organisierung der Gesellschaft existiert, das auf Lehren beruht, und auch unabhängig von der Schwächung, der Erschütterung des persönlichen Glaubens ist. Die Aufmerksamkeit der in den sicheren innereuropäischen Gebieten lebenden Völker in Bezug auf die äußeren Gefahren wachzuhalten. Daran erinnern, dass der Wellengang der Völker im Mittelmeerraum, den wir aus der Geschichte bestens kennen, gerade jetzt die Flut in unsere Richtung leitet, und diese Wellen können sich ganz bis nach Skandinavien ergießen. Die erscheinenden Massen von Migranten sind in Wahrheit Wellen der Völkerwanderung der sich nach einem europäischen Leben Sehnenden, gegen die sich unsere Vorfahren immer mit völliger Hingabe verteidigt haben. Die Nichtverteidigung ist in Wirklichkeit Kapitulation und sie wird die vollkommene zivilisatorische Umwandlung zur Konsequenz haben, so wie das am Süd- und Ostrand Europas die in der Nachbarschaft des Balkan lebenden Völker bereits aus nächster Nähe haben sehen können.

Und uns daran erinnern, dass ganz gleich um welche Erbauer welchen aufgeklärten Reiches es sich dabei handelt, sie verderben den Geist Europas und so werden wir schließlich immer zu einem entgegengesetzten Ergebnis gelangen.

In diesen schwierigen und komplizierten Fragen kann es auch zwischen uns, den Visegrád-Ländern Unterschiede geben. Sicherlich unterscheiden sich die geschichtsphilosophischen Akzente, die anderen Ländern gegenüber gehegten Sympathien und Antipathien können abweichend sein, ja manchmal kann auch die Deutung der geopolitischen Relationen Unterschiede aufweisen.

Doch ist sicher, dass unsere Nationen sich des Gewichts ihrer Verantwortung bewusst sind, die sie für die Zukunft Europas tragen. Es gegenüber den äußeren Angriffen verteidigen und es gegenüber den inneren imperialen Bestrebungen verteidigen, die Selbständigkeit unserer Heimatländer und unserer Nationen erhalten.

Bei der Erfüllung einer Mission zu scheitern, ist heroisch, aber nicht freudvoll. Eine Mission auf die Weise zu erfüllen, dass dabei deine Heimat zu Erfolg, Freiheit und Wohlstand kommt, ist nicht weniger heroisch, aber auch freudvoll. Mitteleuropa sieht gute Chancen für das letztere. Im Namen meiner Nation danke ich für die drei Jahrzehnte der Visegráder Kooperation.