Viktor Orbáns Interview in der Sendung „Guten Morgen Ungarn” von Radio Kossuth
22. Januar 2021

Katalin Nagy: Gestern Abend hat der EU-Gipfel lange gedauert, die Regierungs- und Staatschefs der Länder trafen sich im Rahmen einer Videokonferenz. Es ging in erster Linie um die Beschaffung von Impfstoff. Ich begrüße im Studio Ministerpräsident Viktor Orbán. Gab es führende Politiker von EU-Staaten, die von Brüssel keine Erklärung für diese nicht allzu glückliche Beschaffung von Impfstoff forderten? Wie sehen Sie das?

Guten Morgen, ich begrüße die Zuhörer! Solche Beratungen sehen die Bürger ja nicht, sie verfügen über wenige unmittelbare Informationen darüber, wie die innere Kultur der Brüsseler Politik aussieht. Für einen Ungarn ist sie im Übrigen merkwürdig, ich selbst bin seit zehn und einigen Jahren dabei, ich habe also an sehr vielen Treffen teilgenommen. In der ungarischen Kultur ist es so, dass wenn wir über irgendeine Aufgabe zu reden beginnen, dann benennen wir das Problem, benennen wir die Ursachen und danach diskutieren wir, wie der Fehler behoben werden muss. Die ungarische Sprache – wir haben den Tag der ungarischen Kultur, „die Nation lebt in ihrer Sprache“ lautet ja der altbekannte Spruch, sie stellt ja auch die Grundlage unserer Kultur –, das Herz der ungarischen Sprache dringt also in das Zentrum der Probleme vor. In Brüssel darf man das nicht tun, da geht das anders, das erinnert eher an die Kultur des französischen Königshofes, da gibt es einen Wettbewerb, wer etwas Netteres, Großzügigeres, Eleganteres auf positive Weise über uns selbst, die EU, sagen kann. Da kann man also nicht damit beginnen, dass wir ein Problem haben und man müsste es lösen, sondern man muss lange darüber reden, dass die Europäische Union gut ist, dass die Europäische Union schön ist, wenn es sie nicht gäbe, dann wäre das für alle viel schlimmer, und wenn wir all das hinter uns gebracht haben, wie auf so einem königlichen Empfang, dann berühren wir danach die Probleme jeweils in einer anderen Tiefe. Für einen ungarischen Menschen ist die ganze Sache etwas frustrierend, aber – mein Gott –, wir sind eben nicht gleich. 27 Länder sitzen da, 27 verschiedene Kulturen, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir unsere Arbeit in diesem sprachlichen Umfeld verrichten müssen. Dies war auch gestern so. Wenn ich also gesagt hätte, was die Wahrheit ist, und dies auf so eine rohe ungarische Art, dass: „Leute, es ist sehr gut, dass wir unsere Arbeit getan haben und wir hier uns insgesamt positiv über die Geschehnisse äußern, doch hat man in Großbritannien viel mehr Menschen geimpft, man hat in Israel viel mehr Menschen geimpft, man hat auch in Russland mehr Menschen geimpft und man hat auch mit dem chinesischen Impfstoff mehr Menschen geimpft, während wir hier viele Kranke und Tote haben. Müsste man der Tatsache nicht ins Auge blicken, dass wir etwas falsch gemacht haben oder etwas nicht in Ordnung ist?“ So kann man es also nicht machen, sondern man musste die Frage stellen, die im Namen der V4 auch der polnische Ministerpräsident gestellt hat, er sprach gestern in unserem Namen, dass wenn eben für die Briten das Produkt namens AstraZeneca gut ist und dort schon mehrere Millionen Menschen damit geimpft worden sind und die Zulassung vor zwei Monaten ausgegeben wurde, warum dies für die Europäer nicht gut ist? Oder warum die Brüsseler Behörde nicht die Zulassung für diesen Impfstoff ausgibt? Denn sie gibt sie nicht dem chinesischen und dem russischen, da gibt es einen politischen, ideologischen und vielleicht auch noch einen geschäftlichen Gegensatz. Na, aber im Fall eines durch die britische Behörde zugelassenen, durch eine westliche Behörde zugelassenen Impfstoffs? Und der Impfstoff bedeutet Leben. Das ist keine Spitzfindigkeit und keine technische Frage, denn davon hängen Menschenleben ab. Je schneller es Impfstoff gibt, desto mehr Menschen können wir retten.

Und gibt es darauf eine Antwort?

Jedes Leben zählt! Es gibt immer eine Antwort. Wir haben gestern also erfahren, was die Erklärung dafür ist, dass das so langsam geht. Ich bin kein unhöflicher Mensch, also dachte ich nicht, ich müsste Zirkus machen, aber es ist meine Meinung, dass ich und die Ungarn nicht Erklärungen brauchen, sondern Impfstoff. Wenn er nicht aus Brüssel kommt, dann müssen wir von anderswo welchen besorgen. Die europäische Einheit ist eine schöne Sache, ich schätze sie sehr hoch, wichtig ist es auch, einander zu helfen, wichtig ist es auch, Vereinbarungen einzuhalten, doch ist es nicht möglich, dass ungarische Menschen deshalb sterben sollen, weil die Brüsseler Impfstoffakquise langsam ist. Das Ganze ist einfach inakzeptabel, man muss Impfstoff besorgen! Am Mittwoch hatten wir Regierungssitzung, wir haben den Außenminister ermächtigt, er ist heute in Moskau, die Behörden haben für AstraZeneca, also den in England angewendeten Impfstoff die Zulassung ausgegeben, sie haben sie für den russischen ausgegeben, sie untersuchen den chinesischen, Impfstoff ist nötig, denn das bedeutet das Leben. Ich unterstreiche erneut: Jedes Leben zählt, und das hängt vom Impfstoff ab.

Nun hat aber Brüssel bestimmte Verträge abgeschlossen, z.B. mit Pfizer, und jetzt liefert Pfizer den Impfstoff nicht in der Menge in die Länder, wie es versprochen worden war. Wird dies eine Konsequenz haben?

Wir haben dort in dieser Hinsicht harte Dinge gesagt, dass die Hersteller die Verträge einhalten sollen, usw., aber wissen Sie, dies ist so wie die Wirtschaftspolitik: Man kann also jemanden bitten und auffordern, doch ist der Wettbewerb die einzige Sache, die das richtige Verhalten erzwingt. Wenn wir nur einen Impfstoff oder zwei zulassen, dann schafft dies noch keine Wettbewerbssituation. Gut ist es, wenn wir möglichst viele zulassen, und dann werden sich die Hersteller rühren, denn wenn der eine nicht liefert, wird jemand anders liefern, und wenn jemand anders liefert, dann wird der eine diese geschäftliche Gelegenheit verlieren. Im Übrigen verstehe ich auch nicht ganz genau, was für wirtschaftliche Zusammenhänge sich hier im Hintergrund der Impfstoffbeschaffung hinziehen, ich sehe nur – ich sage es noch einmal –, dass bei bestimmten Firmen der Impfstoff millionenfach in den Lagerhallen herumsteht, Brüssel die Zulassung nicht ausgibt, zugleich wird mit diesem Wirkstoff bereits in Kanada, Israel und in England geimpft. Gerade der Preis dieses Impfstoffs liegt deutlich niedriger als der Preis des zur Zeit vertriebenen Impfstoffs. Was für einen Zusammenhang es zwischen diesen Tatsachen gibt und ob es einen wirtschaftlichen Zusammenhang, einen Wettbewerbszusammenhang zwischen den Pharmafirmen gibt und ob sich das irgendwie in die politische Entscheidungsfindung erstreckt, davon haben wir, von hier, aus der Ferne – Brüssel liegt ja doch 1.700 Kilometer entfernt – kein klares Bild. Wir wissen eines: Dass es uns in Wahrheit auch gar nicht interessiert, es soll möglichst viel Impfstoff in Ungarn geben. Ich komme vom Operativen Stab, da haben wir heute Früh begonnen, auch dort habe ich gesagt: „Impfstoff, Impfstoff, Impfstoff!“

Ja, aber Brüssel pflegt ja einem jeden wegen der Transparenz der Verträge zu drohen, und sie lassen es nicht zu, dass dies, sagen wir, auch Abgeordnete des Europäischen Parlaments sehen können. Aber wenn wir darauf zurückkommen, dass Sie erwähnt haben, die ungarische Gesundheitsbehörde habe die Zulassung für AstraZeneca und Sputnik V erteilt – wird das nicht zu Problemen führen? Zugleich ist da auch der Umstand, über den man in der Europäischen Kommission oder unter den führenden Politikern der EU überrascht war, dass Angela Merkel sagte, sie möchte dabei helfen, damit dieser Impfstoff anerkannt und zugelassen wird. Deutschland würde dabei Hilfe leisten.

Tatsächlich: Die Deutschen verhandeln mit den Russen. Das ist eine alte Geschichte, das können sie gut, aber ich hoffe auch, dass sie zu irgendeinem Ergebnis kommen. Doch möchte ich jetzt kein Tauziehen mit den Brüsselern veranstalten, denn ehrlich gesagt ist das ein politisches Tauziehen, doch geht es jetzt hier nicht um Politik, sondern um Menschenleben und um Ungarn. Wenn wir dann also die ganze Krise hinter uns haben werden, können wir dann auf die Frage zurückblicken, ob es seitens der Mitgliedsstaaten eine kluge Entscheidung war, den Erwerb und die Verhandlungen zentralisiert durchzuführen, anstatt dass jeder es für sich selbst organisiert hätte. Hierüber können jetzt die Meinungen auseinandergehen, man kann auch diskutieren, nur haben wir jetzt keine Zeit dafür, dies können wir danach machen. Und dann wird man danach auch darüber sprechen müssen, ob Brüssel jetzt richtig oder falsch gehandelt hat, wie es mit der Verantwortung aussieht, auch das müssen wir nicht jetzt aufs Tapet bringen, denn jetzt ist das Übel da, das wir beheben müssen. Der ungarische Standpunkt ist sehr klar, es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, sie soll nur die Maus fangen. Das interessiert mich, das ist unsere Denkweise, das ist das Wesen des ungarischen Standpunktes.

Wie viel wird von dem AstraZeneca bzw. dem Sputnik V Impfstoff nach Ungarn kommen können? Könnten z.B. von dem AstraZeneca als erstes in der Europäischen Union Lieferungen nach Ungarn kommen?

In der Angelegenheit des russischen Impfstoffs ist heute Péter Szijjártó in Moskau: Er ist flexibel, entschlossen, schnell, ich vertraue also darauf, dass er an dem heutigen Tag gut verhandeln wird und möglichst viel Impfstoff besorgt. Mit den Chinesen führen wir fortgeschrittene Verhandlungen, doch geben die Chinesen nur dann Impfstoff, wenn die Erlaubnis für den Notstand vorliegt. Das ist das, was die Serben gegeben haben, und deshalb wird in Serbien bereits mit diesem Impfstoff geimpft. Es gibt also ungarische Menschen, die mit dem chinesischen Impfstoff geimpft worden sind, denn die in der Wojwodina lebenden Ungarn werden gerade jetzt geimpft. Das ist für uns insofern eine Hilfe, als dass wir hinüberfahren, uns ansehen können, was geschieht, wir können konsultieren, wir müssen also nicht eine Entfernung zwischen Peking und Budapest zurücklegen, wenn wir mit unseren eigenen Augen sehen wollen, was geschieht, sondern es reicht aus, dorthin, in die Wojwodina hinüberzufahren und nach Belgrad, zu den serbischen Behörden zu gehen, und dann können wir Informationen aus erster Hand erhalten. Das machen wir im Übrigen auch. Für AstraZeneca haben wir die Erlaubnis ausgegeben, es gibt Angebote, Verhandlungen laufen.

Aber dann wird das dazu beitragen, dass das massenweise Impfen beginnen kann, wenn diese Impfstoffe ankommen?

Meiner Ansicht nach sieht ja ein jeder ein, dass wir die Beschränkungen solange nicht aufheben können, solange es kein massenweises Impfen gibt. Das haben wir meiner Ansicht nach gemeinsam gelernt. Denn es ist ja deutlich erkennbar, dass die zweite Welle, die zweite Welle der Epidemie hoch ausgeschlagen ist und man muss sehr große Kräfte mobilisieren, damit wir sie bremsen können. Jetzt haben wir sie schon gebremst, ich kann die Zahlen von der heutigen Sitzung des Operativen Stabes nennen, auf Grund derer es 1.311 Neuinfizierte gibt, die Zahl der Verstorbenen liegt unter hundert: achtundneunzig. 3.959 Personen sind im Krankenhaus und 274 Menschen an den Beatmungsgeräten. Dies ist der Bericht von heute Früh um 6 Uhr. Wir haben 138.983 Personen geimpft und etwa 250 tausend Menschen haben die Infektion durchgemacht, wir haben also etwa 400 tausend Menschen, die entweder auf Grund der Impfung oder der auch offiziell dokumentierten Gesundung von der Infektion als geschützt qualifiziert werden können. Sie infizieren andere nicht und auch sie werden nicht durch andere infiziert, doch ist das eine niedrige Zahl. Wenn es eine Million, anderthalb Millionen Menschen geben wird, wird dies schon gleich ein anderes Bild bieten. Meiner Ansicht nach liegt die Grenze, wenn man darüber wird nachdenken können, dass das Leben in seinen alten gewohnten normalen Gang zurückkehren kann, bei dem Niveau der Durchimpfung, wenn wir die im Gesundheitswesen Arbeitenden geimpft haben werden (das haben wir im Großen und Ganzen hinter uns), die sich in den Sozialheimen Befindenden (vielleicht werden wir mit ihnen bis zum Ende der nächsten Woche fertig, es hängt davon ab, wie viel Impfstoff ankommen wird), danach folgen die über 60 Jahre alten chronisch Erkrankten (das sind anderthalb Millionen, 1 Million 700 tausend Menschen), danach kommen die anderen Akteure der Verteidigung: der Operative Stab, Polizei, Katastrophenschutz, hier komme auch ich und auch die Regierung, das ist also unsere Kategorie, wir kommen zu diesem Zeitpunkt an die Reihe. Danach kommen die Alten, die an keiner chronischen Krankheit leiden. Wenn wir also an diesem Punkt angelangt sein werden, dass die an der Verteidigung Teilnehmenden geimpft sind, wir unsere chronisch Erkrankten geimpft haben, und wir jeden alten Menschen geimpft haben oder es zumindest für jeden von ihnen Impfstoff gibt, und sie die Entscheidung treffen können, denn die Impfung ist ja freiwillig, ob sie die Impfung haben möchten oder nicht, wenn all das geschehen sein wird, d.h. wenn sich niemand wegen des Virus in unmittelbarer Lebensgefahr befinden wird, beginnt dann eine neue Zeitrechnung, und dann wird man darüber reden können, in welchem Tempo und wie wir die Beschränkungen loswerden sollen. Aber das Eintreten dessen hängt von den Impfstoffen ab: Wenn es Impfstoff gibt, dann gelangen wir schnell an diesen Punkt, denn wir werden schnell und gut impfen. Wir werden hierher gelangen, wenn es Impfstoff gibt. Aber alles hängt davon ab, ob und wie viel Impfstoff wir werden besorgen können.

Jetzt kann man also noch keinen konkreten Zeitpunkt für die Aufhebung der Beschränkungen nennen.

In meinen geheimsten Schubladen befinden sich jene meiner Notizen, die darüber nachdenken, wie man das machen müssen wird, durch welche Schritte es sich lohnt, wieder zurückzukommen, wir haben auch gleich schon heute auf der Sitzung des Operativen Stabes über die Abiturienten gesprochen, doch es ist keine Entscheidung getroffen worden, wir werden auf der Regierungssitzung in der kommenden Woche über sie entscheiden. Sie werden jetzt digital unterrichtet und vorbereitet, zwar digital, aber sie erhalten Unterricht, in ihrem Fall ist es überdenkenswert, ob man sie beim Impfen nach vorne nehmen kann, aber nur sie, damit man sie wegen des Abiturs zur Vorbereitung in den Klassenräumen zurückgehen lassen kann, und wir eventuell auch ihre Lehrer impfen, ob das dann umsetzbar ist? Es gibt also solche Detailfragen, doch ist es meiner Ansicht nach jetzt noch verfrüht, wegen des Impfstoffmangels darüber zu reden, wie wir die Beschränkungen aufheben wollen. Worüber ich jetzt eher reden muss, ist, dass ich einen jeden darum bitte – da zwar der Moment, in dem wir die Beschränkungen aufheben werden, nahe ist, aber es nicht egal ist, in welchem Zustand wir diesen Augenblick erleben, ob diszipliniert, das Virus niederhaltend oder erneut als Opfer einer dritten Welle – deshalb bitte ich einen jeden darum, so lange es keine Aufhebung gibt (ich weiß, es ist schwer), trotzdem bitte ich darum, diese Beschränkungen zu akzeptieren, und jene Regeln einzuhalten, mit deren Hilfe es im Frühling zuerst gelungen war, die erste Welle aufzuhalten, und jetzt im Herbst uns auch die zweite Welle aufzuhalten gelang.

Mitte Februar läuft ja die außerordentliche Rechtsordnung ab. Wird sich die Regierung erneut an das Parlament wenden, wenn diese verlängert werden muss?

Wahrscheinlich wird die Lösung sein, dass wir zuerst das Recht haben diesen für zwei Wochen anzuordnen, wir machen das, danach beginnt die Frühjahrssitzungsperiode und dann werden wir mit dieser Bitte vor das Parlament gehen.

Wenn die Aufhebung der Beschränkungen damit verknüpft werden kann, dass die massenweisen Impfungen beginnen sollen, dann ergibt sich die Frage, wann der Neustart der Wirtschaft bzw. ihre Rückkehr auf das alte Niveau zur Sprache kommen kann? Gerade vor einer Stunde haben wir uns mit Árpád Kovács, dem Vorsitzenden des Haushaltsrates unterhalten, der sagte, auf Grund der Zahlen und ihrer Analysen ist ihr Eindruck, dass die Wirtschaft 2021 das alte Niveau wird erreichen können, doch die Zunahme um 4,9 Prozent, die sie, sagen wir 2019 produziert hat, wird sie erst später, dann in 2022 erreichen können. Wie rechnet die Regierung?

Árpád Kovács kenne ich seit sehr langer Zeit. Er ist ein Mensch, der Maß hält, ich habe ihn schon immer um seine Nüchternheit und Ruhe beneidet. Er ist es, der immer vorsichtig formuliert, und wenn er das sagt, dann ist das eine sehr gute Nachricht, da er keine überflüssigen geistigen Abenteuer und kein Risiko eingeht – was er sagt, das kann man beinahe schon als sicher ansehen, was in den Wirtschaftswissenschaften, die sich im vergangenen Jahrzehnt eher als eine lyrische Gattung erwiesen haben, eine große Sache ist. Wenn also er das sagt, dann sollten wir das als das Minimum betrachten, aber meine Hoffnungen sind viel höher fliegend. Ich erhoffe also viel mehr, und ich arbeite auch für ein viel höheres, schnelleres Wachstum. Wenn aber soviel mit Sicherheit eintritt, wie er sagt, befinden wir uns schon in einer guten Situation. Doch wünsche ich mir eine viel bessere als diese. Doch ist das keine Sache, über die wir diskutieren müssen, sondern man muss es anpacken, und dann wird sich am Ende des Jahres herausstellen, was geschieht. Jetzt würde ich – wenn Sie es erlauben – für uns die wichtigste Lehre ziehen, bevor wir uns in der Wirtschaft vertiefen würden. Das kann sich also kein seriöses Land erlauben – und Ungarn ist ja doch ein seriöses Land, nicht nur wegen seiner Vergangenheit, sondern auch wegen seiner geistigen Fähigkeiten –, in der Zeit so einer Epidemie um Impfstoff bitten und betteln zu müssen. So wie es auch eine äußerst schwierige und unwürdige Situation war, dass man wegen der Beatmungsgeräte Einkäufer in alle Ecken der Welt, in alle Richtungen der Windrose aussenden musste, damit sie lebensrettende Instrumente besorgen. Wir haben ja auch im Fall der Beatmungsgeräte die Produktion in Ungarn gestartet, also darf nicht noch einmal eine Situation entstehen, dass wir hier, in Ungarn, nicht so viele Geräte produzieren können, die in welcher auch immer schnell eintretenden nächsten Krisensituation gebraucht werden. Und ähnlich ist die Situation auch mit dem Impfstoff. Das ist eine sehr wichtige Entscheidung, dass die Regierung die Errichtung einer Impfstofffabrik angeordnet hat, die groß genug sein wird, damit in jedwedem Fall, wenn unsere Wissenschaftler, unsere Ärzte, unsere Professoren in der Lage sein werden, einen Impfstoff zu entwickeln, wir dann von diesem werden sehr viel herstellen können. Diese Fabrik wird in Debrecen errichtet, die Planung dessen hat meiner Ansicht nach schon begonnen. Wir haben also einen Beschluss darüber, dass diese Ausgeliefertheit sich nicht noch einmal einstellen darf. Das Übel ist dazu da, dass wir daraus lernen. Solche Schicksalsschläge wie die Epidemie bedeuten auch immer eine Hausaufgabe für ein Land und für ein Volk. Das muss man verstehen, man muss die Schlussfolgerungen ziehen und handeln. Wir werden also in der Angelegenheit des Impfstoffs nicht noch einmal derart ausgeliefert sein. Was jetzt die Wirtschaft anbetrifft: Der Schlüssel der Wirtschaft ist die Arbeit. Man muss immer darauf schauen, ich betrachte das immer an der ersten Stelle, wie wir hinsichtlich der Zahl der Arbeitsplätze stehen. Schwankungen gibt es immer, aber die letzten Zahlen schwankten nach oben – wenn ich so formulieren darf –, und deshalb kann man sagen, dass im Dezember um 4 tausend Menschen mehr gearbeitet haben als im letzten Dezember vor der Epidemie, was eine fantastische Leistung seitens der ungarischen Wirtschaft ist, und deshalb baute das ungarische Krisenmanagement in den vergangenen acht-neun Monaten darauf auf, die Arbeitsplätze zu verteidigen. Die Arbeitsplätze kann man dann verteidigen, wenn die Unternehmen stark sind. Deshalb mussten die Banken vom Eintreiben von etwa 3.000 Milliarden Forint absehen, da wir ein Kreditmoratorium angeordnet haben. Die zentralen Steuern haben wir beinahe um 500 Milliarden Forint gesenkt. Wir haben auch die kommunalen Selbstverwaltungen überzeugt, die örtliche Gewerbesteuer um 180 Milliarden Forint zu senken, denn die Lehre, die wir aus der Krise von 2008-2009 gelernt haben, ist, dass man in Krisenzeiten nicht Restriktionen einführen darf, sondern man muss Steuern senken und entwickeln – das schützt die Arbeitsplätze. 2008-2009 haben ja – ich will jetzt gar nicht politisieren, sondern was ich sage, sage ich eher als eine ökonomisch-methodische Beschreibung – die damaligen Regierungen, die Gyurcsányschen Regierungen und die Bajnaischen Regierungen ein Krisenmanagement durchgeführt, als sie die 13. Monatsrente wegnahmen, von den Ärzten, den Pädagogen einen Monatslohn wegnahmen usw. usf., das auf der Überzeugung basierte, man müsse die Wirtschaft, die Firmen und die Banken retten, und deshalb müsse man von den Menschen Gelder zu den Akteuren des Wirtschaftslebens umgruppieren, zu den Banken, den Unternehmen. Sie haben Restriktionen eingeführt und die Steuern angehoben. Nun, das hat sich nicht bewährt. Die jetzige Regierung hat Glück, denn sie kennt diese traurige Geschichte, und deshalb streben wir nicht nach der Anhebung von Steuern, sondern nach der Senkung von Steuern, nicht nach dem Zurückhalten der Löhne, sondern nach Lohnerhöhungen, und wir führen in der Zeit einer Krise die größte Gehaltserhöhung der Ärzte in der ungarischen Geschichte durch. Gerade jetzt, am Mittwoch, haben wir auch über die Regelung der Gehälter der Hausärzte einen Beschluss gefasst. In der Zeit der Krise bringen wir den ersten Teil der 13. Monatsrente zurück, in der Zeit der Krise beginnen wir mit der größten Unterstützung aller Zeiten zur Schaffung von Eigenheimen, und in der Zeit der Krise werden wir es den Jugendlichen, den unter 25 Jahre Alten ermöglichen, dass sie keine Einkommenssteuer zahlen müssen, und wir planen noch weitere Schritte zur Unterstützung der Familien. Ich möchte also sagen, unsere Annäherung an die Krise geht davon aus, dass man die Arbeitsplätze und die Familien retten muss, und wenn das gelingt, wenn es gelingt, die Arbeitsplätze zu schützen, wozu natürlich die Unternehmen, die Investitionen unterstützt werden müssen, dann können wir gut über diesen schwierigen Zeitraum hinwegkommen. Meiner Ansicht nach hat 2008-2009 das Krisenmanagemant nicht funktioniert, es war eine Tragödie für Ungarn. Das gegenwärtige Krisenmanagement funktioniert nicht nur, sondern eröffnet uns auch neue Perspektiven.

Wenn die ungarische Regierung das tut, was sie tun muss, damit die Wirtschaft das frühere Niveau wieder erreicht, dann ist das sicherlich eine sehr gute Sache. Doch gibt es da doch noch die Europäische Union und jene Wirtschaftsgemeinschaft, deren Teil wir sind. Wenn man nicht normal über die Grenzen hinweg verkehren kann, wenn es nicht jene Impfbestätigung oder jenen Impfpass gibt – man konnte ja nicht einmal über den Namen entscheiden –, dann wird das doch die Wirtschaft zurückhalten, nicht wahr?

Ja, zweifellos. Wir arbeiten daran, also gestern haben wir mit den Ministerpräsidenten eine sehr lange Besprechung darüber geführt, ob irgendein Ausweis notwendig wäre, wobei es darum geht, dass wir denjenigen, die die Infektion überstanden, und jenen, die die Impfung erhalten haben, eine etwas größere Bewegungsfreiheit sichern. Darüber wird es auch in Ungarn Diskussionen geben, und wir sind auch noch nicht in ausreichender Zahl geschützt bzw. es gibt nicht geschützte ungarische Menschen in ausreichender Zahl, damit es eine substanzielle Debatte geben kann. Wenn aber ihre Zahl über einer Million liegen wird, dann wird die Frage die sein, dass, sagen wir, wenn wir eine Million Menschen haben, die nicht mehr infizieren, und die man auch nicht infizieren kann, ob es dann eine sinnvolle Sache ist, dass sie nach 8 Uhr abends ebenso nicht auf die Straße hinausgehen dürfen, wie jene, die wegen der Epidemie noch in Probleme geraten können. Doch ist jetzt diese Zahl noch sehr niedrig, deshalb hat die Diskussion noch nicht begonnen, aber sie steht uns bevor. Sobald wir die eine Million erreicht haben werden, ist dies meiner Ansicht nach eine vernünftige Überlegung. Nun, jetzt erscheinen die gleichen Zusammenhänge, ob es eine Karte geben soll, ob mit ihr irgendeine Erleichterung für den Grenzübertritt oder innerhalb Ungarns irgendeine Erleichterung verbunden sein soll, diese Debatte beginnt am Horizont zu erscheinen. Und der Standpunkt der führenden Politiker der EU war gestern, wir sollten versuchen, irgendeine einheitliche Datenbank zu schaffen, und aufgrund der Datenbank sollten wir irgendeine Registrierung verwirklichen und aufgrund dieser dann irgendeinen Ausweis ausgeben, der dann eventuell zu irgendetwas berechtigt. Jetzt sind wir vorerst an diesem Punkt angelangt. Diese Möglichkeit ist also nur am Horizont erschienen, auf die konkreten Antworten muss man noch warten.

Sie haben bereits darauf verwiesen, dass die Regierung beschlossen hat, auch die Gehälter der Hausärzte und der Zahnärzte zu erhöhen. Früher ging es ja eher nur um die Hausärzte. In welchem Maß und nach welchem Fahrplan werden Sie dann diese Gehälter erhöhen?

Wir folgen der Logik, dass wir die Gehälter der in den Krankenhäusern arbeitenden Ärzte angehoben haben. Früher, vielleicht gerade im November die letzte Rate überweisend, haben wir auch das der Krankenschwestern angehoben, doch danach trat aufgrund des Vorschlags der Ärztekammer ein radikales, langsam die Arbeit der Ärzte angemessen anerkennendes Gehalt ins Leben. Ich sage nicht, wir wären dort angekommen, aber wir nähern uns dem, dass man sagen kann: So wichtig, lebensrettend und anerkennenswert die Arbeit ist, die sie verrichten, dazu wird ihr Gehalt im Großen und Ganzen im Verhältnis stehen. Dies wird es noch nicht sein, aber wir haben einen sehr wichtigen Schritt getan. Wir haben also den Vorschlag der Kammer akzeptiert, und ab jetzt versuchen wir auch die Gehälter der anderen Ärzte hieran anzupassen. Jetzt hat im Fall der Hausärzte Ungarn das Problem, dass es unbesetzte Praxen gibt. Die Praxis ist der Verantwortungsbereich oder der Versorgungsbezirk eines Hausarztes, und es fehlen 4-500 Hausärzte im System. Dies bedeutet, dass es Menschen gibt, die schwer an die gesundheitliche Grundversorgung kommen. Dieses Problem können wir auf die Weise lösen, indem wir den Hausärzten dazu Anreize geben, sich miteinander zusammenzutun, dies muss man in der Sprache der staatlichen Verwaltung auf spektakuläre Weise „Praxisgemeinschaft“ nennen. Wir bitten sie also, zusammenzuarbeiten, und dann auch jenes Gebiet abzudecken, wo es heute keine Hausärzte gibt, und dann bleiben keine Menschen unversorgt, ohne Grundversorgung. Und wer dazu bereit ist, jene Ärzte, die zusammenarbeiten, die erhalten 80 Prozent des Gehaltes der Krankenhausärzte, doch kann dies fallweise auch die 100 Prozent erreichen. Jene Ärzte, die zur Zusammenarbeit nicht bereit sind, sie wollen wir auch nicht vergessen, sie werden noch zu 30 Prozent den Unterschied zwischen ihrem jetzigen Gehalt und dem Gehalt der im Krankenhaus arbeitenden Ärzte erhalten. Für sie wird es also eine so große Anhebung geben. Doch möchte ich einen jeden dazu anregen, miteinander zusammenzuarbeiten und auf diese Weise hinsichtlich der medizinischen Grundversorgung das ganze Land abzudecken.

Und bei den Zahnärzten?

Da gab es nur die Diskussion, ob die Zahnärzte der gleichen Beurteilung unterliegen sollen wie die Hausärzte oder nicht. Darüber gab es eine sich über Wochen erstreckende, lange Diskussion. Die Regierung hat die Argumente abgewogen und schließlich haben wir keine Gründe dafür gesehen, dass wir einen Unterschied machen sollten, wir werden also die Zahnärzte genauso behandeln wie die Hausärzte. Diese Gehaltserhöhungen gelten auch für sie.

Sie haben schon drauf hingewiesen, heute haben wir den Tag der ungarischen Kultur. Der Tag, an dem die Nationalhymne vollendet worden ist, ist der 22. Januar, damals hatte der Dichter Kölcsey den Punkt an das Ende seines Manuskripts gesetzt. Hier bei uns im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sprechen, vor der Sendung „Chronik“, zur vollen Stunde große Schauspielerpersönlichkeiten einzelne Strophen der Nationalhymne. Angefangen mit Ferenc Bessenyei über Imre Sinkovits. Man bedenkt dabei, dass die Hymne ja ein literarisches Genre ist, aber in Wirklichkeit bedeutet es soviel wie „Gebet“. Demnach kann man jetzt die Wurzeln der ungarischen Kultur nicht mehr verfälschen und man kann nichts anderes sagen als: Dies ist eine christliche Kultur.

Natürlich! Hinzu kommt noch, dass – wie wir das in der Schule gelernt haben – der Gattung nach die Hymne eine Jeremiade ist, also ein Gebet, in dem wir uns selbst die Schuld für jene Schicksalsschläge geben, die der liebe Gott uns wegen unserer Sünden zugemessen hat. Das ist eine Gattung, im Übrigen eine schöne Gattung, und sie besitzt grundlegend christliche Wurzeln. Ich sehe nicht den Sinn darin, in Ungarn eine ernsthafte Diskussion darüber zu führen, ob die ungarische Kultur christlich ist oder nicht, denn das kulturelle Umfeld, der Kontext, in dem wir existieren, ist aus einer christlichen Kultur hervorgewachsen. Das sind die Bezugspunkte und das hängt nicht damit zusammen, ob im Übrigen jemand über einen persönlichen Gottesglauben verfügt oder nicht. Das ist ein kulturelles Umfeld, in dem wir uns befinden. József Antall sagte – ich erinnere mich noch – 1990 oder 1991 im Parlament, in Ungarn seien selbst die Atheisten noch Christen, denn sie können ihr eigenes System von Anschauungen auf niemand anders, auf nichts anderes beziehen als auf jenes Umfeld, in dem wir uns befinden. Ich halte es also aus diesem Grund für keine politische Debatte, ob Ungarn ein Land mit einer christlichen Kultur ist oder nicht; das ist ganz einfach eine Tatsache. Wenn jemand dies verändern will, dann kann man natürlich darüber reden, wenn ja, dann warum, wie, mit welchen Mitteln, ob das gut sei, doch lohnt es sich nicht, darüber zu diskutieren, ob wir zum christlichen Kulturkreis in Europa gehören, zu dessen lateinischer Variante. Obwohl wir immer die Bedeutung und die Wichtigkeit dessen vergessen, dass die Orthodoxie hier hinter unserem Rücken zu finden ist, und heute, wo das lateinische Christentum in keinem allzu guten Zustand ist, stützt uns die Orthodoxie von hinten; das ist für uns eine große Hilfe, denn es existiert nicht nur die lateinische, uns bekannte Variante des Christentums, sondern auch die Orthodoxie, und sie stellt einen sehr ernsthaften Wert dar, und jetzt, wo es in der Welt des lateinischen Christentums Attacken gegen die Familie und Migrationsfragen gibt sowie multikulturelle Umgestaltungsexperimente laufen, nimmt die Orthodoxie daran nicht teil, und das gibt Ungarn ein festes Hinterland. Aber um auf die Sprache zurückzukommen, halte ich außer der Vergangenheit es auch für wichtig, dass die ungarische Sprache elastisch bleibt, worauf wir wenig Aufmerksamkeit richten. Sehr viele Neuerungen gelangen in unser Leben durch die Computertechnik und auch durch andere weitere neue Technologien. Wenn die ungarische Sprache nicht in der Lage ist, diese gut zu beschreiben, genau zu deuten und auszudrücken, dann wird sich unsere Sprache in eine veraltete, verknöcherte Sprache verwandeln. Es ist also wichtig, dass wir sie ständig in einem elastischen Zustand halten und erneuern. Hierin stehen wir meiner Ansicht nach jetzt nicht allzu gut da, oder zumindest fehlt die zusammengefasste Arbeit, die den Versuch unternimmt, unsere Sprache auch im 21. Jahrhundert zu einer nutzbaren, elastischen Sprache zu machen. Im nächsten Zyklus werden wir vielleicht dann auch hierfür mehr Zeit haben.

Vielen Dank! Sie hörten Ministerpräsidenten Viktor Orbán.