Viktor Orbáns Presseerklärung nach seinem Gespräch mit Sebastian Kurz, dem Bundeskanzler Österreichs
30. Januar 2018, Wien

Ich wünsche Ihnen allen einen guten Tag!

Ich fahre dort fort, wo der Herr Bundeskanzler aufgehört hat. Er sagte, dies sei nicht unser letztes Gespräch; ich verrate Ihnen jetzt das Geheimnis, dass es auch nicht das erste war. Wir kennen uns schon seit sehr langer Zeit, innerhalb der Europäischen Volkspartei arbeiten wir seit sehr langer Zeit zusammen, nur ist jetzt die Qualität eine neue, früher trafen wir uns als Parteichefs, und nun als Regierungschefs. Die gemeinsamen Grundlagen sind sowohl hinsichtlich der persönlichen Sympathie als auch der politischen Freundschaft vorhanden, denn wir gehören auf der europäischen Ebene der gleichen politischen Gemeinschaft an.

Ich durfte dem Herrn Bundeskanzler sagen, wie die Ungarn die Zukunft sehen. Wir haben den Eindruck, dass sich in Europa eine ernsthafte Neuordnung vollzieht. Ein Element dieser ist, dass die Briten die Europäische Union verlassen, das andere Element ist, dass Mitteleuropa immer spektakulärer zum wirtschaftlichen Motor der Union wird, mit seinen hohen Wachstums- und niedrigen Beschäftigungsraten, und ich habe auch nicht verheimlicht, dass Ungarn schon immer die weiterführende Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Balkan unterstützt hat, was eine weitere Neuordnung mit sich bringen wird. Die Ungarn bestimmen ihren Platz in diesem historischen Prozess dahingehend, dass in den kommenden zehn Jahren es unsere Aufgabe sein wird, alles im Interesse der weiteren Stärkung der im Übrigen erfolgreichen mitteleuropäischen Region zu unternehmen, damit diese Region bestimmend wird innerhalb der EU. Ich denke, dies ist ein gutes Programm auch für Österreich. Österreich befindet sich in einer glücklichen Lage, denn es versteht uns, es versteht die Mitteleuropäer, versteht auch die Visegrád-Länder, und es versteht auch die Westeuropäer, denn sie hatten das Glück, das uns nicht zuteil wurde, dass es hier bereits 1955 gelang, die Sowjets nach Hause zu schicken – uns gelang dies erst viel später, im Jahre 1990, 1991. Österreich versteht uns also und versteht auch die westeuropäischen Länder. Jene Rolle, die sich Österreich gegeben hat, ist sehr günstig für Ungarn, und ich bin dem Herrn Bundeskanzler auch sehr dankbar dafür, dass er eine Art von Brückenrolle formuliert hat. Wir sind ein Brückenkopf, der mitteleuropäische Brückenkopf des europäischen Kontinents.

Ich wollte auch nicht verheimlichen, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir selbstverständlich jene Zukunft, die vor uns steht, und die wir für möglich halten, auch schützen müssen. Die größte Bedrohung für die ansonsten vielversprechende mitteleuropäische Zukunft ist die Völkerwanderung, die wir schlichtweg als Migrationsfrage zu bezeichnen pflegen. Ich habe mich bei dem Herrn Bundeskanzler dafür bedankt, dass er auch schon früher als Außenminister immer ein guter Partner von uns war, nicht nur ein guter Freund Ungarns, sondern auch ein guter Partner hinsichtlich der Fragen der Migration, und dass wir immer auf ihn haben zählen können, sowie dass wir beide darin übereinstimmten, ja nicht nur übereinstimmten, sondern auch im Interesse dessen etwas unternommen haben, um die Balkanroute der Migration zu schließen. Ich denke mit Dankbarkeit daran, dass in den schwierigen Tagen, Wochen und Monaten Österreich Polizisten und Grenzschützer zu uns gesandt und geholfen hat, die Südgrenze Ungarns zu schützen. Ich bin davon überzeugt, dass wenn wir Ungarn dort unsere Mann stehen, dann schützen wir nicht nur Ungarn, sondern auch Österreich. Wenn ich darüber spreche, dass die Zukunft verteidigt werden muss, dann spreche ich natürlich auch darüber, dass wir eine Kultur haben. Diese bezeichnen wir als christliche Kultur. Hier möchte ich jetzt nicht deren religiöse, sondern die kulturelle Dimension hervorheben. Es gibt eine Weise, wie wir leben, wie man in den christlichen Gesellschaften zu leben pflegt, und wir möchten diese Lebensform verteidigen. Für uns ist diese Identität wichtig, so dass es meine Überzeugung ist, dass in Europa keine Parallelgesellschaften notwendig sind, sondern die christlichen kulturellen Grundlagen bewahrt werden müssen. Dementsprechend habe ich dem Herrn Bundeskanzler dargelegt, dass wir uns darauf vorbereiten, auch auf der Ebene der UNO an einer ernsthaften Diskussion teilzunehmen. In einigen Wochen wird ein Dokument sichtbar werden, dass die Organisation der Vereinten Nationen herausgeben wird, das sich mit der Frage der Migration beschäftigt, und wir, Visegrád-Staaten, haben am letzten Freitag in Budapest beschlossen, an dieser Debatte aktiv teilzunehmen. Ich kann auch sagen, dass wir uns dahingehend einig waren, dass ein zukünftiges europäisches System – nennen wir es jetzt Dublin – , sich nicht nur mit der Frage der Regulierung der Flüchtlinge beschäftigen muss, sondern auch mit jener des Grenzschutzes. Es darf keine Diskrepanz, keine Abweichung zwischen der Regelung des Grenzschutzes und der der Angelegenheit der Flüchtlinge geben, denn man muss den Grenzschutz auch in den Mittelpunkt der Flüchtlingspolitik stellen, das heißt Schengen muss von allen eingehalten werden. Ich habe den Herrn Bundeskanzler darüber informiert, dass diesbezügliche Vorschläge zu der sich in Vorbereitung befindlichen europäischen Gesetzesinitiative im Namen Ungarns und der V4 eingereicht werden. Wir stimmten darin überein, dass die Quote keine Lösung ist, aber wir stimmten auch darin überein, dass jene, die illegal nach Europa gekommen sind, hier nicht bleiben dürfen. Zwar gibt es in Ungarn keine illegalen Migranten, es wird sie auch nicht geben, Ungarn nimmt keine Migranten auf, hat es auch bisher nicht getan, wird es auch im Weiteren nicht tun, weshalb es sie bei uns auch nicht gibt, aber von dort, wo es sie in Europa gibt, müssen sie weggebracht werden, man muss sie dorthin zurückbringen, woher sie gekommen sind, und sie nicht verteilen. Ungarn steht hierbei gerne allen Ländern der Europäischen Union zur Verfügung, denn es ist ja offensichtlich, dass man auf eine Ungesetzlichkeit kein Recht gründen kann.

Der Herr Bundeskanzler hat die Frage des Atomkraftwerkes erwähnt. Wir betrachten dies nicht als eine österreichisch-ungarische Debatte, denn Österreich hat ja auch gegen Großbritannien interveniert, als es zu einer positiven Entscheidung über das Atomkraftwerk Hinkley Point gekommen war. Ich werde alles im Interesse dessen unternehmen, damit jener Meinungsunterschied, der in der Angelegenheit der Nuklearenergie besteht, nicht die österreichisch-ungarischen Beziehungen trübt. Wir betrachten dies als eine europäische und nicht als österreichisch-ungarische Angelegenheit, und wir suchen eine Lösung auf europäischen juristischen Foren.

Ähnlich ist die Situation auch hinsichtlich der Familienförderung. Ich habe den Herrn Bundeskanzler gebeten, jene Ungarn, die hier arbeiten, fair, anständig zu behandeln: Wenn sie die Sozialabgaben bezahlen, dann sollen sie das bekommen, was ihnen zusteht. Wenn es eine Diskussion darüber geben sollte, was ihnen zusteht, dann sollten wir dies nicht als eine österreichisch-ungarische Diskussion betrachten, sondern als eine Debatte über die Auslegung des europäischen Rechts. Und diesen juristischen Kampf werden wir auch austragen.

Ich habe dem Herrn Bundeskanzler gegenüber auch noch angesprochen, dass die Verbindungen zwischen den beiden Ländern physisch nicht gelöst sind. Ungarn wird in den kommenden drei-vier Jahren seine Autobahnen bis an die österreichisch-ungarische Grenze ausbauen, und auf der anderen Seite gibt es keine Anschlusspunkte. Ich habe den Herrn Bundeskanzler darum gebeten, dass wir im Interesse der Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit diese Verbindungspunkte und -möglichkeiten erschaffen.

Auch ich habe mit Freude die erfolgreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Österreich und Ungarn zur Kenntnis genommen. Österreich gehört zu den wichtigsten Investoren in Ungarn, nach unseren Schätzungen verdienen mehr als 70 tausend ungarische Familien ihr Brot bei Firmen, die in österreichischer Hand und in Ungarn tätig sind. Wir sprechen also über einen ernsthaften Investor, und auch in unseren wirtschaftlichen, unseren Handelsbeziehungen steht Österreich an zweiter Stelle, es ist also ein wertvoller Partner. Ich bin der Überzeugung, dass von der österreichisch-ungarischen Zusammenarbeit beide Partner gegenseitig profitieren; dies ist gut für Österreich und dies ist auch gut für Ungarn. Ich habe gesagt, dass wir alles daran setzen werden, damit in der Zukunft auch unsere wirtschaftlichen Beziehungen wachsen können. So war es, meine sehr geehrten Damen und Herren, bei dem großen Treffen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!