Viktor Orbáns Rede auf dem Dankgottesdienst zum Anlass der Übergabe des Ráday-Hauses
1. Oktober 2022, Budapest

Exzellenz, Herr Bischof! Herr Hauptverwalter! Sehr geehrte Herren Hauptschreiber! Sehr geehrte feiernde Gemeinde! Meine lieben reformierten Brüder!

Dabei wäre es so gut gewesen, sich selbst zu rühmen! Selbstverständlich auf maßhaltende, reformierte Weise, doch so, nach der Predigt unseres Herrn Bischofs Szabó – die zugleich auch immer eine Ermahnung ist – kann jetzt davon keine Rede mehr sein. Deshalb werde ich jetzt lieber darüber sprechen, dass dort, wo die Not groß ist, die Hilfe nahe liegt. Und wie sehr war dies an jenem schrecklichen Tag so, als wir gemeinsam mit Herrn Bischof Szabó die ausgebrannten Flure des Ráday-Wohnheims beschritten. In den hektischen Momenten war aber auch schon die Hoffnung da. Wie wir es gehört haben, begannen am Tag nach der Tragödie die Spenden und es waren kaum einige Tage vergangen, da waren bereits mehrere Millionen Forint für die notwendigen Arbeiten und die Hilfe für die ohne eine Heimstatt dastehenden Bewohner des Wohnheims zusammengekommen. Woher diese Kraft? Wenn man das Gebäude durch den alten Eingang von der Ráday Straße aus betritt, wird man von einer monumentalen Treppe empfangen. Und auf dem ersten Treppenabsatz findet man sich gleich einer Skulpturengruppe gegenüber. Calvin, Theodor von Beza, Knox, Bocskai und den anderen Helden des reformierten Glaubens. Sie empfangen einen wie eine Prüfungskommission – und das ist auch nicht weit von der Wahrheit entfernt. Der Blick der Vorfahren wiegt uns; jene, die die Pflicht täglich auf die Kanzel, jene, die sie auf den Katheder und auch jene, die sie zur Führung und die Verteidigung des Landes aufruft. Und wir wissen das aus dem Gedicht von Gyula Illyés, das er vor dem größeren Bruder dieses Denkmals verfasst hat, dass das Ziel, das die Reformatoren uns vorgegeben haben, nicht nur das Verbleiben im Glauben, sondern auch der Befehl ist, in unserem Ungarntum zu verbleiben. Von hier aus, aus diesem Blickwinkel haben wir den verkohlten Körper des niedergebrannten Wohnheims betrachtet und für uns war es keine Frage, dass der Staat bzw. die Regierung in der Not sich an die Seite der ungarischen Reformierten stellen soll – schließlich ist sie gerade deshalb eine nationale Regierung. Doch ist das mehr als eine Pflicht, eher eine Rückzahlung. In Wirklichkeit haben wir mehr erhalten, als wir gegeben haben. Wir haben von dem Wohnheim, dem Kollegium so vieles erhalten, seit es hier in der Nachbarschaft seine Tore eröffnet hat. Die Pester Theologie war schon zur Zeit ihrer Gründung eine nationale Angelegenheit. Lajos Kossuth hat ihr auch in der Zeitung „Pesti Hírlap“ einen Artikel gewidmet. „Was bei einer Nation in der Angelegenheit der Erziehung geschieht, das geschieht für die Nation, in welcher Kirche der Lehrer mit seinen Zöglingen auch beten mag, und so ist das auch von nationalem Interesse.” Oder an gleicher Stelle meine Lieblingszeilen: „Der Ungar soll europäisch sein, und was wir als europäisch bezeichnen, soll in dieser Heimat immer ungarisch bleiben.” Und Kossuth hat auch Recht behalten. Was im Ráday-Kollegium geschah, gereichte der Nation tatsächlich zum Vorteil, und obwohl es europäisch war, so blieb es doch immer ungarisch. Generationen reformierter Pastoren begannen ihre Laufbahn hier und dienten dann auf ehrenwerte Weise Ungarn diesseits und jenseits der heutigen Grenzen. Sie trugen ihren Glauben, ihr Wissen, ihr Selbstwertgefühl, ihr ungarisches Sein mit sich. Sie ernteten auch dort, wo andere nicht einmal zu säen wagten. Im Krieg, in der Minderheit, im Kommunismus. Sie akzeptierten die schwierige Probe und Gott tat durch sie ein Wunder. Und Ungarn bekam wieder und wieder Kraft zum Neubeginn, zur Erneuerung, zum Aufbau des Landes nach der Zerstörung. Und diese sich erneuernde Kraft, die – wenn ich das richtig verstehe – das Wesen der Reformation, der reformierten Identität bedeutet, haben wir heute mindestens so nötig, wie wir sie nach dem zweiten Weltenbrand oder dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems hatten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Brüder!

Es ist verführerisch, aber eine gefährliche Sache, biblische Offenbarungen in eine Analogie mit dem profanen Leben zu setzen. Das ist ein gefährliches Minenfeld, auf dem höchstens unsere Seelsorger auf selbstsichere Weise sich bewegen, doch trotzdem kann man dem nicht widerstehen. Wenn wir auf einem breiten Horizont das heutige Leben überblicken, ist es nicht schwer, die vier galoppierenden Reiter der Apokalypse zu sehen. Als ob wir den Antichristen sähen, wie er im umgeschneiderten Kleid des alten Marxismus – das man Woke nennt – an der Spitze der einst stolzen, christlichen, westlichen Länder reitet und sie, die Freiheit verkündend, in die Unterdrückung führt. Und hier dreht sich auf seinem feuerroten Pferd der Krieg, der russisch-ukrainische Krieg, der sich nur immer weiter vertieft und verbreitert und Tag für Tag immer mehr Menschen und aus immer größerer Nähe bedroht. Und hier ist auf seinem schwarzen Pferd auch der Hunger, den heute die Veränderung des Klimas der Erde der Welt bringt. Und hier sind die Seuchen, die ihrem fahlen Pferd die Sporen in die Flanke rammen, deren Reihe COVID bereits eröffnet hat. Das sind Proben, die wir ertragen müssen. Es ist gerade die Verantwortung des christlichen Menschen, nicht nur die Flut zu sehen, sondern auch das Ziel, das andere Ufer. Denn dies ist unsere Aufgabe: Unsere Heimat heil auf das andere Ufer zu bringen. Uns aneinander festhaltend und auf den Herrgott vertrauend. Nicht auf die Flut, sondern immer auf das Ufer achtend. Man muss dann am lautesten sein, wenn die Mächtigen der Welt uns zum Schweigen bringen wollen. Man muss dann mit geradem Rücken stehen, wenn man uns mit falschen Beschuldigungen droht. Man muss sich dann voller Würde für unsere Traditionen einsetzen, wenn die halbe Welt im Fieber der neuen Moden zuckt und das Stolz nennt. Und man muss dann Frieden fordern, wenn alle schon entsprechend der Logik des Kriegsdenkens handeln. Und für unser Recht einsetzen und dafür zu kämpfen als einzelner und als Nation gleichermaßen. Die vor uns stehenden Schwierigkeiten sind jetzt recht groß, doch wo die Kraft des Menschen verbraucht ist, wird sie immer durch die Gnade ergänzt. Es steht nicht in unserer Macht, das aus der Asche erneut zu erschaffen, was im Feuer verbrannt ist, doch hatten wir die Kraft, gemeinsam ein neues Wohnheim zu errichten, das seinen Vorgänger überflügeln wird. In solchen Momenten ist die Ermunterung der katholischen Brüder eine Hilfe, nach der wir keinen Feind haben, den Jesus Christus nicht bereits besiegt hätte – worauf unser Gesang eine schöne Antwort gibt: „Vertrauet, denn Jesus kommet, er ist der Führer.” Und tatsächlich: So dunkel sich auch die Wolken auftürmen, so hoch auch die Wellen schlagen, und so unüberwindlich auch die Hindernisse erscheinen mögen, wir müssen nur auf die Worte des Psalms hören: „Vertrauet!”

Der liebe Gott über uns allen, Ungarn vor allen Dingen! Soli Deo gloria!