Viktor Orbáns Rede auf dem Galaabend der Veranstaltungsreihe „Temeschwar 30”
14. Dezember 2019, Temesvár (Timişoara / Temeschwar)

Exzellenzen! Herr Bürgermeister! Liebe Temeschwarer! Sehr geehrte Gedenkende! Meine Damen und Herren!

Ich wünsche Ihnen einen guten Abend!

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Die Ungarn lieben diese Stadt. Temesvár (Temeschwar) war schon immer eine berühmte, eine wichtige Stadt. Dies war eine der wichtigsten Festungen Ungarns gegenüber den Türken, und wenn sie fiel, war mit ihr auch Ungarn verloren. Im 19. Jahrhundert ist sie einer der Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung Ungarns. 1956 wurde es – bereits als ein Teil Rumäniens – zum Schauplatz des gemeinsamen Auftretens rumänischer und ungarischer Jugendlicher. Ihren weltgeschichtlichen Moment erlebte sie – ebenfalls als Teil Rumäniens – 1989. Damals erlernte die Welt ihren Namen. Die Temeschwarer und die Bürger Rumäniens ließen die Welt wissen, dass wir, Mitteleuropäer, wenn es sein muss, auch zum Preis unseres Lebens, unsere Freiheit zurücknehmen werden.

Sehr geehrte Gedenkende!

Es ist eine alte Weisheit, dass die Welt zwei Übel besitzt. Das erste: Sie glaubt das nicht, was möglich ist. Und das zweite: Sie glaubt das, was nicht möglich ist. 1989 hielt die Welt es nicht für möglich, dass die Rumänen sich gegen den Kommunismus erheben würden. Wie man abschätzig zu sagen pflegte: Die Polenta explodiert nicht. Und dann stellte sich heraus, dass das sehr wohl möglich ist. Ja, es war sogar möglich, dass für die Freiheit die Rumänen und die Ungarn gemeinsam aufzutreten in der Lage waren. Das besaß sein historisches Vorspiel. Die Erinnerung der Ungarn hatte bewahrt, wie 1956 nach den Polen und den Ungarn in Rumänien die Rumänen sich in der größten Zahl auf die Seite der Revolutionäre von ’56 stellten – nicht selten schwere Jahre im Gefängnis auf sich nehmend. Dank dafür!

Sehr geehrte Gedenkende!

Die Weltpolitik glaubte vierzig Jahre lang, es sei möglich, den Kommunismus mit Hilfe von Kompromissen zu zähmen, ja zu verbessern. Und die Weltpolitik hat vierzig Jahre lang nicht geglaubt, dass die Auflehnung der unterdrückten Völker den Kommunismus stürzen könnte. Die Einwohner Rumäniens zeigten, dass die Verbesserung des Kommunismus nicht einmal mit Kompromissen möglich ist, und sie haben gezeigt, dass sein Umsturz durch einen Volksaufstand sehr wohl möglich ist. Ja, dass das nur auf diese Weise möglich ist. Die Völker Mitteleuropas haben schon immer gewusst, dass wir die Freiheit niemals als Geschenk von den Großmächten erhalten werden. Wir wussten auch, wenn wir ein Geschenk erwarten können, dann kann das höchstens vom lieben Gott kommen, der uns in unserem Körper und unserem Geist bestärkt, damit wir den Mut haben, unsere eigene Freiheit zu erkämpfen. Wenn wir auf die Westler gewartet hätten, dann würden wir noch immer unter der Besatzung der sowjetischen Truppen leben, wären wir immer noch Mitglieder des Warschauer Vertrags, und auf kommunistischen Parteikongressen würde man über unsere Zukunft entscheiden. Wir aber wollten ein freies Leben, wir haben den Kampf auf uns genommen, wir sind das Risiko eingegangen, und unsere Helden gaben dafür auch ihr Blut. Das ist unser gemeinsamer polnischer, tschechischer, slowakischer, rumänischer und ungarischer Ruhm. Ruhm gebührt auch jenen, die in Temeschwar und anderswo in Rumänien ihr Leben für unsere Freiheit gaben. Soviel zur gemeinsamen Vergangenheit.

Sehr geehrte Gedenkende!

Wenn aber wir Rumänen und Ungarn zusammenkommen, können wir dann uns nur erinnern, oder wollen wir auch über die gemeinsame Zukunft zusammen nachdenken? Gibt es gemeinsame Ziele des ungarischen und des rumänischen Volkes, kann es diese geben? Das ist hier die Frage. Als Ministerpräsident Ungarns kann ich Ihnen im Namen der ungarischen Nation sagen: Ich sehe eine großartige Chance dafür, dass in der Zukunft die Rumänen und die Ungarn gemeinsame Ziele haben können. Wir, Ungarn, wollen aus der Situation ausbrechen, dass wir zur zweiten Reihe Europas gehören. Obwohl auch dies nach vierzig Jahren Kommunismus und sowjetischer Besatzung eine schöne Leistung ist, doch möchten wir zu den europäischen Ländern gehören, wo es am besten ist zu leben, schöpferisch tätig zu sein und zu wohnen. Ungarn möchte mit der modernsten Technologie der Weltwirtschaft produzieren, es möchte die beste und die sauberste natürliche Umwelt genießen, und es will eines der sichersten Länder der Welt bleiben. Wir wollen, dass die Arbeit der ungarischen Menschen zumindest so wertvoll sein soll wie die jener, die nicht durch den Kommunismus ausgeraubt und ausgesogen worden sind. Und, sehr geehrter Herr Bürgermeister, wir, Ungarn, sind der Ansicht, dieses Ziel können wir gemeinsam mit unseren Nachbarn leichter erreichen als alleine, als vereinsamt. Deshalb sind wir bereit, gemeinsam mit unseren Nachbarn – Rumänien mit inbegriffen – ein neues Mitteleuropa aufzubauen. Ein Mitteleuropa, dass nicht nur ein Zulieferer für die westeuropäischen Wirtschaften ist, sondern auch eine der erfolgreichsten und wettbewerbsfähigsten Regionen der Welt. Wo unsere Städte durch Autobahnen und Schnellzugverbindungen miteinander verknüpft sind, wo ein jeder Arbeit hat, und wo Kopfzerbrechen dann die Frage bereiten wird, was wir mit den sich aus Westeuropa meldenden Arbeitnehmern anfangen sollen. Wenn wir zusammenarbeiten, wenn wir kooperieren, wird dies möglich, und das wird die neue europäische Realität sein. Die Welt, ja auch viele von uns glauben noch nicht, dass dies möglich sei. Wir, einstige antikommunistische Widerstands- und Freiheitskämpfer antworten hierauf nur: Ja aber auch 1989 hatte die Welt nicht geglaubt, dass das möglich sei, was dann hier, in Temeschwar und Rumänien geschah.

Sehr geehrte Gedenkende!

Wir sind heute auch aus dem Grund hier, um uns vor unserem Herrn Bischof László Tőkés zu verneigen. Wir, die wir unseren Nagel in den Sarg des Kommunismus eingeschlagen haben, als es nötig war, haben immer schon gewusst, dass wir am Ende siegen werden. Wir wussten, dass die Diktatur zuerst einen Knacks erhält, und dann auch in sich zusammenstürzen wird. Es konnte nicht anders sein. Vergebens die Armee, die Polizei, der Geheimdienst, die Presse, die Volksverdummung, die Vergiftung der Seelen und das Korrumpieren. Vergebens die Peitsche und das Zuckerbrot, noch genauer der mit Zucker bestrichene Peitschenriemen, das heißt vergebens die Übermacht, all das hilft nichts. All das ändert nichts daran, dass das kommunistische System in Sünde gezeugt worden war und sich auf Lügen aufbaute, weshalb sein Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit war. Nun ja, aber wann? Warum gerade 1989? Und warum gerade an jenem Dezembertag? Warum nicht früher oder später? Das wissen wir nicht. Aber wir wissen: Das Licht kommt dann, wenn die Nächte am längsten und die Tage am dunkelsten sind. Das können wir mit Sicherheit sagen, dass wenn nicht ein junger reformierter Geistlicher seinen Mut zusammengenommen und sich gegen die Macht gewendet hätte, dann hätte man auf den Funken, der das ganze System in die Luft geblasen hat, noch lange warten müssen.

Ruhm gebührt László Tőkés! Sehr geehrte Gedenkende!

Ich muss auch erwähnen, dass wir bei den Lichtern der Erinnerung auch die gegen László Tőkés gerichteten kleinlichen Machinationen sehen, das Verschweigen seiner Rolle, auch das Unverständnis und das Misstrauen gegenüber seinem Lebenswerk als Politiker. Doch haben wir auch gelernt, dass kaum eine politische Veränderung vorstellbar ist, die aus den ausgesäten Drachenzähnen ohne jeden Übergang blühende Obstgärten hervorzaubert. Vier und halb Jahrzehnte Kommunismus bleiben nirgendwo in der Welt ohne Konsequenzen. Wie auch immer, am heutigen Tag sind wir hierher gekommen, weil wir das Gefühl haben, wir sind uns selbst schuldig, die Wahrheit auszusprechen und sie hochzuschätzen. Und wir sind es vor allem solchen Akteuren schuldig, wie László Tőkés es war. Mit unserem Gedenken zünden wir Licht in einer derart besonderen Stadt wir Temeschwar, wo in Europa unter den ersten Städten die elektrische Straßenbeleuchtung anging.

Gott segne Temeschwar und seine Bürger! Gott segne László Tőkés!