Viktor Orbáns Rede auf dem IV. Budapester Demografie-Gipfel
23. September 2021, Budapest

Sehr geehrte Herr Präsidenten, Herr Ministerpräsidenten! Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Herr Bischöfe, Leitender Herr Rabbiner! Meine Damen und Herren!

Der Demografie-Gipfel in Budapest ist nicht einfach nur eine wissenschaftliche Konferenz. An dieser Konferenz nehmen auch führende Politiker zahlreicher Länder teil. Wissenschaftler und Entscheidungsträger gemeinsam. Das ist begründet. Die Schwierigkeit der demografischen Fragen ergibt sich nicht nur aus der Kompliziertheit der Erkenntnisse. Mindestens genauso schwierig ist es, die Erkenntnisse in Taten umzuwandeln. Insgesamt bin ich seit 16 Jahren Ministerpräsident, und ich sage es aus eigener Erfahrung, dass die Umwandlung der demografischen Erkenntnisse in Regierungsmaßnahmen für mich immer die schwierigste fachliche Herausforderung bedeutete.

Meine Damen und Herren!

So eine Konferenz bedeutet schon an sich ein Engagement, ein Werteengagement. Nicht alle Menschen denken, dass man überhaupt über die Gestaltung der demografischen Prozesse nachdenken müsste. Es gibt Menschen, die die demografischen Prozesse der entwickelten Welt als Vorbestimmung ansehen. Wir sind aber aus dem Grund hier, weil wir die Bevölkerungsprozesse nicht erleiden, sondern formen wollen. Es ist eine besondere Freude für mich, dass ich auch Herrn Vizepräsidenten Mike Pence aus den Vereinigten Staaten in unserem Kreis begrüßen darf.

Sehr geehrter Herr Vizepräsident!

Gott, Heimat, Familie – das ist die Losung des ungarischen konservativen Denkens, und ich glaube, kein einziger amerikanischer Patriot würde bei Seite springen, wenn er dies auf seine Flagge schreiben müsste.

Sehr geehrter Herr Vizepräsident!

Wir haben in den vergangenen Jahren empfindliche politische Verluste erlitten. Die Torys sind aus der Europäischen Union ausgetreten, damit haben wir einen wichtigen Verbündeten innerhalb der Europäischen Union verloren, Herr Präsident Trump konnte seine Arbeit nicht fortsetzen, und Herr Ministerpräsident Netanjahu führt heute die Opposition in Israel. Und wer weiß, was am Sonntag in Deutschland geschehen wird. Wie auch immer, die Lage ist schwierig, Herr Vizepräsident, wir wünschen Ihnen, dass Sie möglichst schnell zurückkehren!

Es ist eine Ehre, die Herrn Ministerpräsidenten Andrej Babiš und Janez Janša begrüßen zu dürfen. Unsere Völker und Länder leben in einer Schicksalsgemeinschaft. Die gnadenlose Übereinkunft der Großmächte nach dem Zweiten Weltkrieg hat uns für 45 Jahre auf die kommunistische Seite geworfen, dann haben wir gemeinsam den Systemwechsel durchgemacht, und jetzt kämpfen wir gemeinsam für die Interessen Mitteleuropas und die Souveränität unserer Länder.

Wir kämpfen gemeinsam dafür, dass bei aller Digitalisierung, grünen Ökologisierung und anderen modernen Themen Europa nicht seine Wurzeln vergisst, sein christliches Erbe, und auch nicht die Sicherheit der europäischen Menschen vergisst. Heute wollen wir gemeinsam mit den Herrn Ministerpräsidenten unsere europäischen Kollegen von der Unterstützung der Migration abbringen und sie überreden, dass Europa auch die auf der Grundlage der Beziehung zwischen Mann und Frau stehenden Familien unterstützen soll. Wir kämpfen gemeinsam mit den Herrn Ministerpräsidenten für ein Europa, in dem die Menschen und die Nation entscheiden, in welche Richtung Europa steuern soll. Wir danken Ihnen, dass Sie hier sind! Andrej, bei Euch wird es Wahlen geben, wir bitten Dich recht herzlich, diese zu gewinnen! Sagen wir es geradeheraus: Wir brauchen Dich, ohne Dich und die Tschechen wird es nicht gehen.

Erlauben Sie mir, Herrn Aleksandar Vučić, den Präsidenten Serbiens, und Herrn Milorad Dodik, den Ministerpräsidenten der bosnischen Serbischen Republik zu begrüßen. Es ist eine Ehre, dass sie hier sind. In diesem Saal weiß meiner Ansicht nach ein jeder, dass die Zukunft des Balkan die Zukunft der europäischen Sicherheit bestimmen wird. Wir müssen die Brüsseler überzeugen, dass sie ihre seit Jahrhunderten angewandte Politik nicht mehr fortsetzen sollen, in der sie den Balkan im Interesse ihres eigenen Komforts und ihrer eigenen Sicherheit als Pufferzone benutzen. Das ist ein schlechter Gedanke, der sich auch bisher nicht bewährt hat, und er wird sich auch in der Zukunft nicht bewähren. Man muss den Balkan nicht als Pufferzone, sondern als zu integrierende Region ansehen. Ohne Serbien und seine Region kann Europa nicht vollständig sein. Der Herr Präsident und der Herr Ministerpräsident können hierbei auf unsere vollständige Unterstützung rechnen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Damit sind wir auch beim Themenkreis der Demografie angekommen. Ob der Bevölkerungsschwund ein Übel ist? Der Westen, der in vielerlei Hinsicht, vor allem im materiellen Wohlstand weiter voraus ist, will sich ganz einfach nicht selbst erhalten. Reden wir nicht drumherum, sprechen wir es geradeheraus aus: Bestimmte Zivilisationen sind in der Lage, sich zu reproduzieren, die westliche Zivilisation ist dazu aber nicht fähig. Ja sie können es nicht einmal entscheiden, ob dies alles überhaupt ein Problem ist. Es gibt Meinungen, nach denen es das nicht ist. Sie argumentieren dahingehend, dass mit dem Anwachsen der Produktivität und der Entwicklung der Technik auch weniger Menschen in der Lage sind, mehr Güter zu produzieren, mehr öffentliche Güter herzustellen. Maschinelle Produktion, künstliche Intelligenz, automatisierte Wirtschaft, die humane Arbeitskraft zählt nicht mehr. Das ist das technokratische, im Silicon Valley modische Zukunftsbild. Und es gibt Menschen, die das Problem des Bevölkerungsschwundes empfinden, jedoch mit dem Instrument der Migration darauf antworten wollen. Sie glauben, der Bevölkerungsschwund sei mit der Ansiedlung fremder Bevölkerungen aus fernen Gebieten aufzuhalten. Doch die massenhafte Migration, die durch die Willkommenskultur hierher gelockten Millionen bedeuten in Wirklichkeit den globalen Plan der Ansiedlung einer neuen Arbeiterklasse. Diese Gedanken und ihre politischen Vertreter beachten aber nicht die kulturelle Dimension der Demografie. Herr Vizepräsident, die ist in Amerika vielleicht weniger schmerzhaft. Hier in Europa, wo Nationen leben, die auf der Grundlage tausendjähriger und kultureller Grundlagen leben, ist dies die wichtigste Dimension der Migration. Hier bei uns ist die Migration eine Identitätsfrage. Es mag sein, dass die entfallenden Arbeitskräfte ersetzt werden können – durch Maschinen oder umgesiedelte Menschen –, aber hier in Europa funktioniert ein Land nur, wenn seine Mitglieder in den Hauptfragen im Großen und Ganzen die gleichen Werte vertreten und auf einer identischen Grundlage stehen. Wenn es dies nicht gibt, dann zerfällt in Europa ein Land und eine Nation unrettbar, das ist nur eine Frage der Zeit. Das erste, was ich Ihnen sagen möchte, ist also, dass in Europa die auf einer wirtschaftlichen Herangehensweise beruhenden Wege nicht zu beschreiten sind.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

So wie die vor mir Redenden, so betrachte auch ich mit Sorge die im Westen in Windeseile sich verbreitenden neomarxistischen, neolinken, wie man in Amerika sagt: Woke-Bewegungen. Soweit wir das sehen, will man bereits im Kindergarten unsere Kinder auf eine falsche Art erziehen. Sie gebrauchen Kinder als Prideaktivisten, und sie popularisieren für die Kinder die freie Geschlechtsumwandlung. Das ist Teil des neomarxistischen Woke-Programms.

Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Meine Damen und Herren!

Hier in Mitteleuropa ist die Situation eine andere. Wir kennen die Natur des marxistischen Gedankens, wir mussten vierzig Jahre mit ihm zusammenleben. Wir sind gegen das Woke-Virus geimpft. Unsere Geschichte schützt uns auf die Weise vor der kulturellen Linken, wie die Impfstoffe vor dem Coronavirus. Es ist meine Überzeugung, dass es nur eine einzige richtige und durchführbare Lösung für die Formel des Bevölkerungsschwunds gibt: Der Staat muss bei der Familiengründung und dem Wohlergehen der Familien helfen. Es ist die Aufgabe des Staates, die Hindernisse für die Gründung einer Familie aus dem Weg zu schaffen.

Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Wir Ungarn haben vor zehn Jahren fünf Gebiete identifiziert, und haben die ungarische Familienpolitik auf diese fünf Pfeiler aufgebaut. Der erste ist, dass das Bekommen von Kindern für eine Familie auch im materiellen Sinn ein Vorteil sein soll und kein Nachteil. Der zweite, dass man die Familien zu einer Wohnung, und das ist wichtig: zu einer in ihrem eigenen Besitz befindlichen Wohnung verhelfen muss. Drittens, dass wir unsere Familienpolitik auf die Mütter basieren müssen. Viertens: Man muss nicht nur eine Familienpolitik machen, das gesamte Wirken des Landes muss man in eine familienfreundliche Form umwandeln. Und schließlich der fünfte Pfeiler, dass man auch mit dem Instrument des Rechts die Institution der Familie und die Kinder schützen muss.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

In den modernen Gesellschaften gibt es keine Familien mehr, die aus mehreren Generationen bestehen. In Europa sorgt der Staat für das Funktionieren des Gesundheitswesens, des Sozial- und des Rentensystems. Die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt hat sich vollzogen, und das bedeutet eine gewaltige wirtschaftliche Treibkraft. Frauen gehen charakteristischerweise dann arbeiten, wenn sie die größten Chancen besitzen, Kinder zu bekommen. Das ist die Situation. Wenn wir nicht etwas unternehmen, dann bleibt kein wirtschaftlicher Anreiz mehr dafür, Kinder zu bekommen. Wir können sagen, man kann sagen, so eine Argumentation sei seelenlos, doch ist das die Realität. Ganz gleich, ob es uns gefällt oder nicht, aber die nachteiligen wirtschaftlichen Zusammenhänge halten viele davon ab, Kinder zu bekommen. Gerade deshalb ist es die Hauptzielsetzung der ungarischen Familienpolitik, diese Tendenz umzudrehen, und das Kinderkriegen erneut zu einem wirtschaftlichen Vorteil zu machen. Das ist sehr schwer. Geld an die Familien zu verteilen, ist eine leichte Sache, dazu braucht man nicht allzu viel Verstand, doch wissen wir, wenn wir zu viel Geld verteilen, dann bremst das zunächst die Leistung der Wirtschaft und danach zerstört es die Wirtschaft. Deshalb müssen wir den Familien auf die Weise Unterstützung geben und ihnen Vorteile verschaffen, dass dabei die Wirtschaft nachhaltig anwächst und die gesamte Wirtschaft sich kräftig entwickelt. Nun, das ist schon etwas, auch uns gelingt das nicht immer. Wir haben zwar zahlreiche mutige und überraschende Schritte getan. Wir wenden 5 Prozent des GDP zur Unterstützung der Familien auf. Wir haben die Arbeit mit dem Kinderkriegen verbunden. Wir möchten, dass die Frauen die Wahl haben, zu arbeiten, wenn sie es wollen, doch soll die Annahme einer Arbeit für sie kein existenzieller Zwang sein. Doch muss ich Ihnen gestehen, das alles ist schön, aber wir sind immer noch nicht an dem Punkt angekommen, an dem wir gerne wären, und besonders noch nicht dort, wo wir sein müssten, Ungarn hat erst die Hälfte des Weges beschritten. Wir sind bei der Hälfte des Weges angekommen, doch wenigstens kennen wir schon die Richtung. Wenn es nicht die neue spezielle ungarische Familienpolitik gegeben hätte und alles wäre beim Alten geblieben, dann wären bei uns im Laufe von zehn Jahren um 120 tausend weniger Kinder geboren worden. Ich sage es den Ungarn: Das entspricht der gesamten Bevölkerung der Stadt Győr oder Nyíregyháza. Statt dieses Bevölkerungsschwundes ist die Zahl der Eheschließungen beinahe auf das Doppelte angewachsen, und, sehr geehrter Herr Vizepräsident, seit 2010 hat die Zahl der künstlichen Schwangerschaftsabbrüche in Ungarn um 41 Prozent abgenommen; wir sind noch nicht dort angekommen, wohin wir gelangen möchten, aber sie sind schon um 41 Prozent zurückgegangen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich muss auch offen darüber reden, dass ja, wir verteidigen uns, Ungarn verteidigt sich, denn die westliche Linke greift an. Die westliche Linke attackiert das traditionelle Familienbild, indem sie zuerst den Begriff der Familie relativiert. Das Instrument dessen ist die LGBTQ-Lobby und die Genderpropaganda. Sie zielen ausgesprochen auf unsere Kinder ab, wir müssen uns also verteidigen. Und Ungarn verteidigt sich auch. Wir besitzen ein konstitutionelles System des Familien- und Kinderschutzes, das sich automatisch einschaltet, wenn es die Familien in Gefahr sieht, woher auch die Gefahr kommen mag: Von den Genderaktivisten, von Seiten der Medien oder gar aus Brüssel, der Welt der Politik.

Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Liebe Gäste!

Die wichtigste Verteidigungslinie des ungarischen Familienschutzsystems ist die Verfassung. Ich werde jetzt einige Sätze aus der Verfassung zitieren. „Die wichtigsten Rahmen unseres Zusammenlebens sind die Familie und die Nation.” – sagt die ungarische Verfassung. Sie setzt folgendermaßen fort: „Die Grundlage unserer Rechtsordnung ist das Bündnis zwischen den Ungarn der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.” An anderer Stelle: „Ungarn schützt die Institution der Ehe, als eine auf Grundlage eines freiwilligen Beschlusses zwischen einem Mann und einer Frau entstandene Lebensgemeinschaft sowie die Familie, als Grundlage des Fortbestehens der Nation.” Und dann sagt die Verfassung wieder an einer anderen Stelle: „Der Schutz der konstitutionellen Identität und der christlichen Kultur Ungarns ist die Pflicht aller Organe des Staates.” Und dann wieder an anderer Stelle: Ungarn schützt das Recht der Kinder auf die Identität des Geschlechts, mit dem sie geboren worden sind, und garantiert die auf der christlichen Kultur basierende Erziehung. Die Eltern haben das Recht, die Erziehung zu wählen, die ihre Kinder erhalten sollen. Die Eltern sind verpflichtet, für ihre minderjährigen Kinder zu sorgen, und die volljährigen Kinder sind verpflichtet, für ihre darauf angewiesenen Eltern zu sorgen. Und schließlich der größte Stein des Anstoßes, wegen dessen wir auch heute in Brüssel attackiert werden. Die ungarische Verfassung sagt: Der Vater ist ein Mann, die Mutter ist eine Frau.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Im Interesse der Verstärkung der Verteidigungslinien haben wir, Ungarn, Nationale Konsultationen und Volksabstimmungen abgehalten. Deshalb können wir sagen, dass unsere Maßnahmen mit dem Willen der ungarischen Menschen in Einklang stehen. Ich erinnere Sie daran, dass in Westeuropa und in Brüssel niemals jemand die Menschen über die LGBTQ-Propaganda oder die Migration gefragt hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Natürlich existiert hinter unserer Familienpolitik, hinter unseren Maßnahmen, hinter den konstitutionellen Verteidigungslinien auch eine Erwägung geistiger oder anthropologischer Art, das ist die Grundlage für alles. Ein Kind zu bekommen ist eine Freude. Nicht so eine Freude, wie in den Vergnügungspark oder ins Kino zu gehen. Kinder zu erziehen ist ein Opfer. Es ist oft mit Schwierigkeiten verbunden, angefangen mit schlaflosen Nächten bis zu dem großen Verzicht. Doch dieser Verzicht hilft uns. Die Menschen mit Familie verstehen die Worte des Evangeliums: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.” Oft sagen wir, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Deinen Nächsten so wie Dich selbst. Dies verstehen wir im Allgemeinen als eine Warnung, als einen Aufruf zur Solidarität und Fairness. Aber wenn ich es richtig verstehe, dann bedeutet dies, dass wir auch uns selbst lieben müssen. Und was könnte diese Selbstliebe genauer, besser und kraftvoller zum Ausdruck bringen, als dass wir unser Leben für wert erachten, fortgesetzt zu werden. Und das ist nur auf dem Weg über unsere Kinder möglich. Heiterkeit, Frieden mit dem menschlichen Schicksal, sich Erheben aus dem herunterziehenden Schlamm, sursum corda; das geben die Familie und das Kind.

Schließlich, sehr geehrter Herr Vizepräsident! Liebe Gäste!

Vor zwei Wochen war der Heilige Vater hier. Er ermunterte uns in der Familienpolitik, er sagte, wir sollten nicht innehalten. Wir werden es auch nicht aufgeben, und wir werden mit Brüssel die Schlacht über den Schutz der Kinder ausfechten. Die Ungarn pflegen keine Versprechungen zu machen. Statt Beteuerungen kann ich auch nur sagen: Hier stehen wir und können nicht anders! Wir wissen, was wir zu tun haben.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!